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Der Hofnarr und seine Kinder

Schloss Reichenau hatte schon immer eigenwillige Bewohner. Gian-Battista von Tscharner brachte den Wein. Der Sohn setzt die Tradition auf seine Art fort und die Tochter weiss, wie man Feste feiert.

Ruth
Spitzenpfeil
01.05.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

Wer ist denn nun der Schlossherr von Reichenau? Gian Battista von Tscharner antwortet mit schelmischem Lachen auf die Frage. «Herren haben wir nicht. Ich bin hier der Hofnarr», sagt der 71-Jährige. Wenn es aber um den Weinbau gehe, dem Kerngeschäft des Hauses, da habe jetzt sein Sohn das Sagen. Vor drei Jahren übergab er quasi den Kellerschlüssel an die nächste Generation. «Es hat mir keiner geglaubt, dass ich mich tatsächlich zurückziehen würde; aber ich habs gemacht», betont nicht ohne Stolz das Familienoberhaupt, dem man ansieht, dass er sein Leben lang kräftig anzupacken wie auch zu geniessen wusste.

Drei Generationen

So sitzt bei unserem Besuch auf Schloss Reichenau auch der 33-jährige Johann-Baptista von Tscharner mit am Tisch. Das Metier hat er schon jung vom Vater gelernt, es dann aber auch noch richtig studiert an der Fachhochschule in Wädenswil. Er bewohnt mit seiner Lebenspartnerin das Stockwerk über den Eltern. Aber auch noch Tochter Francesca ist heute anwesend. Denn sie ist ebenfalls eine Chefin im Familienunternehmen von Tscharner. Die ausgebildete Tourismusfachfrau leitet den Bereich Events und ist unter anderem dafür verantwortlich, dass in Reichenau ganz viele unvergessliche Hochzeitsfeste gefeiert werden. Wie ihre Schwester Maria ist sie zwar schon seit einiger Zeit ausgezogen, kommt aber oft von Chur hierher. Und diesmal hat sie bereits die nächste Generation mitgebracht, den bald zweijährigen Mats. «Das ist doch kein richtiger Name», grummelt zwar der Senior, geht aber ganz in seiner Rolle als Grossvater auf.

Nun ist es an der Zeit zu erklären, wo wir uns hier befinden. Vorbeigekommen sind hier wohl die meisten schon, die durch Graubünden reisen. Das Schloss sieht man ganz nah vom Zug aus nach St. Moritz oder im Auto unterwegs auf der A13. Zum Anwesen gehört ein wunderbarer Park, der im Westen steil abfällt und den Felsspitz bildet, wo Vorder- und Hinterrhein zusammenfliessen. Diese verkehrstechnisch privilegierte Lage ist Fluch und Segen zugleich. Sie ist dafür verantwortlich, dass hier überhaupt so ein stolzes Gebäude errichtet wurde. Den Anfang machte im 14. Jahrhundert ein Zollhaus; an den Brücken konnte man leicht kassieren, was die ersten Herren von Reichenau reich machte.

Vom Zollhaus zum Hotel

Dieser älteste Teil steht bis heute, ist aber gleichzeitig auch das Sorgenkind der von Tscharners. Die Tafeln «Hotel Adler» hängen noch, doch seit sechs Jahren hat kein Gast mehr in einem der 15 Zimmer übernachtet und die Küche des einst gediegenen Restaurants blieb kalt. Ein neuer Pächter für das in den Siebzigerjahren zuletzt umfassend renovierte Haus konnte ebenso wenig gefunden werden wie Banken, die in ein Umbauprojekt investieren würden. Gedanken gemacht hat man sich schon viele, was aus dem Schlosshotel werden könnte, zu dem auch ein historisches Gewächshaus und ein idyllisch gelegenes Freibad gehören. Francesca von Tscharner verfasste sogar ihre als beste des Jahrgangs 2014 ausgezeichnete Masterarbeit zu dem Thema. «In dieser Grösse und an der Lage ist es sehr schwierig, eine Rentabilität zu erzielen», musste sie nüchtern feststellen – so schön eine Wiederbelebung wäre.

Auch wenn der «Adler» vorerst geschlossen bleibt, Gastlichkeit gibt es weiterhin in Reichenau – nur auf andere Art. Als wir das in seiner heutigen Form ab 1820 als klassizistischer Prachtbau entstandene Haupthaus betreten, wird gerade das untere Gewölbe und das Eingangstor renoviert. Hier bietet man am «Tag der offenen Weinkeller» – heute Mittwoch, 1. Mai, – wieder die feinen Tropfen des Hauses zur Degustation und eine kleine Festwirtschaft mit regionalen Produkten an. In den beiden Prunkräumen rechts und links der Eingangshalle kann demnächst auch wieder geschlemmt werden. Die beliebte Spargel-Tavolata sei aber schon fast ausgebucht, sagt Francesca von Tscharner, die auch an diesem Anlass dafür sorgen wird, dass alles klappt.

Der Spargel wächst mehr oder weniger vor der Tür. Doch so eigenwillig, wie er einst den Weinbau anging, zieht von Tscharner senior auch dieses edle Gemüse ganz anders als üblich. Er lässt es nämlich im flachen sandigen Boden unter Tunneln aus der Erde hochwachsen. «Für die orthodoxen Spargelzüchter bin ich eine Katastrophe», sagt er. Doch der Geschmack gibt ihm recht.

Und wo wächst der Wein?

Zu Reichenau gehört auch ein grosser Landwirtschaftsbetrieb, der – vom Rhein aus gesehen – hinter dem ehemaligen Hotel und dem Schlossensemble liegt. Der ist jedoch verpachtet; nur den Spargelanbau sowie die Pflege des weitläufigen Parks mit zum Teil seltenen Baumexemplaren besorgen die von Tscharners mit Hingabe selbst. Nach einer Pflanze hält man jedoch vergeblich Ausschau: die Weinrebe. Das Schloss Reichenau ist kein von Rebbergen umgebenes «Château» wie im Burgund. Ganz früher dürfte hier durchaus einmal Wein angebaut worden sein, das ist aber lange her. Als der in Maienfeld aufgewachsene Gian-Battista von Tscharner 1975 auf das Schloss kam, das in jenem Jahr seine Mutter geerbt hatte, war es für ihn der ideale Ort zum Keltern, zum Ausbau und zur Lagerung. Die Trauben mussten aber vorher eine kleine Reise antreten. Ein Weinberg war bereits in der Familie, das Lochergut am Sonnenhang von Chur. Weitere kaufte er mit der Zeit in Maienfeld, Jenins und Felsberg dazu. Heute gehört das Gut mit 5,5 Hektaren zu den grösseren in Graubünden.

Später steigen wir noch in das Reich des jungen Winzers hinab, der trotz seinen eleganten, modernen Weinen wie sein Vater auch viel Wert auf die reifen Jahrgänge legt. Zuerst aber geht es in die hauseigene Kapelle. Diese und andere stimmungsvolle Räumlichkeiten sind ein Grund, warum das Schloss ständig Preise als eine der besten Hochzeits-Locations der Schweiz gewinnt. Dazu gehört natürlich auch die perfekte Organisation durch Francesca von Tscharner.

Auf dem Weg durch die sogenannte Galerie, den zur Zeit des Rokoko erbauten Ostflügel des Schlosses mit seinen heute kaum mehr genutzten Zimmerfluchten, wäre es Zeit, in die Geschichte einzutauchen. Die ist kompliziert und geprägt von spannenden Figuren, die entweder den Namen von Tscharner oder von Planta trugen. Da gab es einen liberalen Politiker, der hier eine Reformschule aufbaute, in der sogar der spätere französische König Louis-Philippe unterrichtete. Sodann treffen wir auf einen innovativen Chemiker und einen bedeutenden Schweizer Diplomaten. Man spürt, dass das Blut beider Bündner Geschlechter in den Adern der heutigen Besitzer fliesst. Sie lassen sich nicht unterkriegen, auch wenn so ein Erbe manchmal Kopfzerbrechen bereitet.

Die weiteren Schlösser mit allen Bildern hier im Dossier.

Ruth Spitzenpfeil ist Kulturredaktorin der «Südostschweiz» und betreut mit einem kleinen Pensum auch regionale Themen, die sich nicht selten um historische Bauten drehen. Die Wahl-St.-Moritzerin entschloss sich nach einer langen Karriere in der Zürcher Medienwelt 2017, ihr Tätigkeitsfeld ganz nach Graubünden zu verlegen. Mehr Infos

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