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Staatsanwältin in Winterthur: «Kein Platz für Schattensysteme»

Die Staatsanwältin im Winterthurer An'Nur-Prozess hat in ihrem Plädoyer klar gemacht, worum es ihr in diesem Fall geht: Man müsse ein Zeichen setzen gegen Schattensysteme, die sich über den Schweizer Rechtsstaat hinwegsetzten.

Agentur
sda
02.10.18 - 13:16 Uhr
Blaulicht
Die Staatsanwaltschaft glaubt den zehn Beschuldigten kein Wort: Im Bild ein junger Moschee-Besucher, der zugab, die beiden "Verräter" bespuckt zu haben. Gewalt habe es aber keine gegeben.
Die Staatsanwaltschaft glaubt den zehn Beschuldigten kein Wort: Im Bild ein junger Moschee-Besucher, der zugab, die beiden "Verräter" bespuckt zu haben. Gewalt habe es aber keine gegeben.
KEYSTONE/LINDA GRAEDEL

«Wir führen einen Prozess gegen Menschen, die ihre Religion über das Rechtssystem in diesem Land stellen», sagte sie in ihrem Plädoyer. Dies sei nicht zu akzeptieren. In diesem Land gebe es keinen Raum für Schattensysteme. Es gebe auch keinen Platz für Selbstjustiz gegen angebliche «Verräter».

«Selbstjustiz gegen Personen auszuüben, die ein Verbrechen gegen den Rechtsstaat publik machen, ist nicht zu tolerieren», sagte sie. Hier habe immer noch der Staat die Strafhoheit, nicht eine Gruppe, die sich in ihrer religiösen Weltanschauung verletzt fühlt.

10 Jahre Landesverweis

Die Staatsanwältin fordert für die acht jungen Muslime, ihren Imam und den Vereinspräsidenten teilbedingte Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Die Ausländer unter ihnen sollen zudem für 10 Jahre des Landes verwiesen werden.

Einen Härtefall, der eine Abschiebung verunmöglichen würde, erkennt sie nicht. Auch der Afghane könne in seine Heimat zurückgeschafft werden. Kabul gelte als sicher, so die Staatsanwältin.

Den zehn tief gläubigen Muslimen wird vorgeworfen, im November 2016 zwei vermeintliche «Spitzel» verprügelt, mit dem Tod bedroht und eingesperrt zu haben. Sie waren überzeugt, dass die beiden einen Journalisten mit Informationen versorgt hatten.

Wegen dieser Informationen wurde ein 25-jähriger Vorbeter der An'Nur-Moschee schliesslich verurteilt und des Landes verwiesen. Er hatte zu Gewalt an «schlechten Muslimen» aufgerufen.

Nur geredet, nicht geprügelt

Die Beschuldigten streiten jedoch alle Vorwürfe ab. Sie hätten lediglich mit den beiden geredet. Vereinzelte von ihnen hätten sie auch angespuckt. Zu Gewalt sei es jedoch nicht gekommen.

Diese Aussagen seien alle unglaubwürdig, sagte die Staatsanwältin. Es sei um Rache und Bestrafung gegangen. Als Mob mit aggressiver Gruppendynamik seien sie auf die beiden «Verräter» losgegangen.

Der Vereinspräsident und der Imam hätten in ihrer Funktion als Respektspersonen eigentlich die Gelegenheit gehabt, den Mob zu beruhigen, so die Staatsanwältin weiter. Dies hätten sie aber nicht getan. Stattdessen hätten sie die beiden im Büro eingesperrt, ein Geständnis aus den Opfern herausgepresst und es aufgenommen.

Schadenersatz und Genugtuung

Der Geschädigte, der eine Hirnerschütterung davontrug, leidet gemäss seinem Anwalt bis heute. Er sei immer noch im Gewaltschutzprogramm der Polizei, habe bis jetzt sieben Mal die Wohnung gewechselt und fühle sich nach wie vor nicht sicher in seinen vier Wänden.

Der Anwalt fordert von den Beschuldigten, dass sie dem Nordafrikaner solidarisch 20«000 Franken Genugtuung und 118»000 Schadenersatz zahlen. Der andere Geschädigte stellt keine Forderungen. Er will lieber nicht mehr an die Sache erinnert werden.

Am Nachmittag beginnen die zehn Anwälte der Beschuldigten mit ihren Plädoyers. Weil es am Dienstag zeitlich nicht für alle reicht, wird der Prozess am Mittwoch fortgesetzt.

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