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Streit um Justizreform: Lage in Israel wird immer dramatischer

Mit der Entlassung des Verteidigungsministers Joav Galant wegen Kritik an einer höchst umstrittenen Justizreform hat sich die Lage in Israel dramatisch zugespitzt.

Agentur
sda
27.03.23 - 03:53 Uhr
Politik
Israelis protestierengegen gegen die Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Galant und die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren. Foto: Ilia Yefimovich/dpa
Israelis protestierengegen gegen die Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Galant und die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren. Foto: Ilia Yefimovich/dpa
Keystone/dpa/Ilia Yefimovich

Zehntausende Menschen strömten in der Nacht zu Montag in der Küstenmetropole Tel Aviv auf die Strasse, um gegen die Entscheidung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu protestieren. Angesichts der brenzligen Lage hielt der Chef der rechtsreligiösen Regierung eine Dringlichkeitsberatung zum weiteren Vorgehen ab. Die Armee wurde Medienberichten zufolge wegen der chaotischen Entwicklungen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.

Netanjahu hatte Galant, der seiner rechtskonservativen Likud-Partei angehört, wegen dessen Aufrufs zum Stopp der Justizreform entlassen. Gegen die Reform, mit der der Einfluss des Höchsten Gerichts beschnitten und die Machtposition der Regierung zulasten der unabhängigen Justiz gestärkt werden soll, gibt es seit Monaten heftige Proteste. Auch international haben die Pläne erhebliche Kritik ausgelöst, selbst die USA als wichtigster Verbündeter zeigten sich in einer Stellungnahme «tief besorgt»: Angesichts der geplanten «grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System» rief das Weisse Haus die israelische Führung «nachdrücklich auf, sobald wie möglich einen Kompromiss zu finden».

Der bisherige Verteidigungsminister Galant hatte am Samstagabend die Regierung zum Dialog mit Kritikern aufgerufen. Er warnte, dass die nationale Sicherheit auf dem Spiel stehe. Seit Wochen ist von wachsendem Unmut im Militär die Rede, aus Protest gegen die Reform erschienen zahlreiche Reservisten nicht zum Dienst.

Auf den Strassen bricht sich der Zorn vieler Menschen Bahn, die um die Demokratie in Israel fürchten. Nachdem dort am Samstag schon 200.000 Menschen zusammengeströmt waren, blockierten am Sonntagabend in Tel Aviv zahllose Demonstranten mit Israel-Fahnen die zentrale Strasse nach Jerusalem und setzten Reifen in Brand. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine auf die Einsatzkräfte flogen. In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Strassensperre neben Netanjahus Wohnhaus, wo der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet in der Nacht zu Gesprächen eintraf.

Auch in Netanjahus eigener Partei scheint der Rückhalt zu bröckeln: Israelischen Medienberichten zufolge setzen sich inzwischen mehrere Likud-Politiker dafür ein, die Justizreform zu stoppen. Laut der Zeitung «Haaretz» fordern einflussreiche Parteigrössen den Rücktritt von Verteidigungsminister Yariv Levin, der sein politisches Schicksal mit der Reform verknüpft hat. Die Oppositionspolitiker Jair Lapid und Benny Gantz forderten Netanjahus Parteikollegen in einer gemeinsamen Mitteilung auf, «sich nicht an der Zerstörung der nationalen Sicherheit zu beteiligen». Der Regierungschef habe «eine rote Linie überschritten».

Netanjahus seit drei Monaten amtierende Koalition - die am weitesten rechts stehende, die das Land je hatte - wollte Kernelemente der Reform eigentlich in den kommenden Tagen umsetzen. Ob die Abstimmung über ein Gesetz, das Regierungspolitikern mehr Einfluss bei der Ernennung von Richtern verleihen soll, wie geplant an diesem Montag stattfinden wird, war durch die jüngsten Ereignisse allerdings unklar.

Die Regierung wirft dem Höchsten Gericht unbotmässige Einmischung in politische Entscheidungen vor. Das Parlament soll künftig mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufheben können, der Ministerpräsident stärker vor einer Amtsenthebung geschützt werden. Kritiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr, manche warnen gar vor der schleichenden Einführung einer Diktatur.

Israelische Universitäten verkündeten am Sonntagabend aus Protest gegen die Entlassung Galants und die Reformpläne einen vorläufigen Unterrichtsstopp. Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise. Der Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) setzte für Montag eine Pressekonferenz an, allem Anschein nach zur Verkündung eines Generalstreiks.

Der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett warnte, Israel befinde sich in der grössten Gefahr seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Arabische Staaten hatten Israel damals überraschend am höchsten jüdischen Feiertag angegriffen. Bennett rief Netanjahu dazu auf, die Entlassung Galants zurückzunehmen, die Reform auszusetzen und einen Dialog mit den Gegnern aufzunehmen. Die Demonstranten ermahnte er, keine Gewalt anzuwenden und Blutvergiessen zu verhindern. «Wir sind Brüder», schrieb Bennett.

Sicherheitsexperten warnen, Feinde des Landes - allen voran der Iran, die libanesische Hisbollah-Miliz sowie militante Palästinenserorganisationen im Gazastreifen - könnten die Gunst der Stunde für Angriffe auf den innenpolitisch geschwächten Staat Israel nutzen.

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