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Netanjahu verschiebt nach Massenprotesten umstrittene Justizreform

Nach massiven Protesten hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen vorübergehenden Stopp der umstrittenen Justizreform angekündigt. «Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen», sagte Netanjahu am Montag in Jerusalem. Das Gesetzesvorhaben wird damit frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt.

Agentur
sda
27.03.23 - 20:23 Uhr
Politik
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (2.v.r), nimmt an einer Abstimmung in der Knesset, teil während draußen Menschen gegen den Plan seiner Regierung protestieren, das Justizsystem zu überarbeiten. Foto: Maya Alleruzzo/AP
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (2.v.r), nimmt an einer Abstimmung in der Knesset, teil während draußen Menschen gegen den Plan seiner Regierung protestieren, das Justizsystem zu überarbeiten. Foto: Maya Alleruzzo/AP
Keystone/AP/Maya Alleruzzo

«Wir befinden uns mitten in einer Krise, die unsere essenzielle Einheit gefährdet», sagte Netanjahu. Er warnte vor einem Bürgerkrieg, zu dem es nicht kommen dürfe. «Alle müssen verantwortlich handeln», sagte er. Deshalb strecke er seine Hand zum Dialog aus.

Organisatoren der seit Wochen anhaltenden Demonstrationen kündigten an, die Proteste fortzusetzen. «Die Regierung hat Israel der Zerstörung nahe gebracht und sie droht immer noch, die Demokratie zu demontieren. Ein vorübergehendes Einfrieren reicht nicht aus und die nationalen Proteste werden sich weiter verschärfen, bis das Gesetz in der Knesset abgelehnt wird», hiess es am Abend in einer Mitteilung.

Der Preis für die Verschiebung

Israels Polizeiminister Itamar Ben-Gvir hatte vor Netanjahus Rede mitgeteilt, er habe sich mit ihm auf eine Verschiebung verständigt. Im Gegenzug soll eine «Nationalgarde» unter der Führung des rechtsextremen Politikers eingerichtet werden. Was dies konkret bedeutet, war zunächst nicht klar.

Kritiker sprachen jedoch bereits von einer steuerfinanzierten Privatarmee Ben-Gvirs. Sie äusserten die Sorge, die bewaffneten Einsatzkräfte könnten etwa brutaler gegen Demonstranten des liberalen Lagers vorgehen als die Polizei. Ben-Gvir hatte mehrfach das Vorgehen der Polizei gegen die Proteste als zu schwach kritisiert. In sozialen Netzwerken wurde ausserdem die Befürchtung geteilt, dass diese neuen Kräfte gegen Palästinenser im Westjordanland eingesetzt werden könnten.

Medienberichten zufolge waren Ben-Gvir und Netanjahu zuvor zu einer Krisensitzung zusammengekommen, in der Ben-Gvir mit seinem Rücktritt gedroht haben soll, sollte Netanjahu nicht an den Reformplänen festhalten.

Höhepunkt des Protests

Zuvor waren erneut Zehntausende Menschen auf die Strassen geströmt, um gegen die umstrittenen Pläne der Regierung zu protestieren. Im Zuge eines Generalstreiks kam es zu erheblichen Beeinträchtigungen im Flugverkehr. Die Arbeitergewerkschaft am internationalen Flughafen Ben Gurion hatte am Vormittag einen Startstopp am Flughafen angekündigt. Zehntausende Reisende waren von der Entscheidung betroffen. Der Dachverband der Gewerkschaften in Israel hatte zu einem Generalstreik aufgerufen, um «den Wahnsinn» der Regierung zu stoppen.

Viele Arbeitnehmer folgten auch anderorts dem Aufruf des Dachverbands namens Histadrut, der rund 800 000 Mitglieder umfasst. Mehrere Einkaufszentren und Universitäten im Land blieben zu. Auch israelische Botschaften weltweit sowie Hightech-Unternehmen schlossen sich an. Die dynamische Start-up-Szene gilt als wichtigstes Zugpferd der israelischen Wirtschaft. Auch Krankenhäuser waren von dem Streik betroffen. Sie arbeiteten in einem abgespeckten Schichtsystem. Am Dienstag sollte der Generalstreik aufgehoben werden, teilte Histadrut mit.

Der letzte Tropfen

Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte den massiven Protest mit der Entlassung von Verteidigungsminister Joav Galant am Sonntagabend angefeuert. Galant hatte zuvor zu Gesprächen mit Kritikern und einem Stopp der umstrittenen Pläne für eine Justizreform aufgerufen und vor einer Gefahr für Israels Sicherheit gewarnt.

Seit Wochen treibt Israels rechts-religiöse Regierung diese Reform mit aller Macht voran. Die Koalition um Netanjahu wirft dem Höchsten Gericht übermässige Einmischung in politische Entscheidungen vor. Dem Parlament soll es künftig etwa möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufzuheben. Zudem soll die Zusammensetzung des Gremiums zur Ernennung von Richtern geändert werden. Kritiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr, manche warnen gar vor der schleichenden Einführung einer Diktatur.

Herzog richtet Appell an Regierung

Präsident Izchak Herzog rief die Regierung zum Einlenken auf. «Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen», sagte er am Morgen. Die Menschen seien in tiefer Angst.

Ungeachtet der Proteste nahm am Morgen ein Kernelement der umstrittenen Reform eine weitere Hürde. Der Justizausschuss des Parlaments billigte den Gesetzestext, der die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses ändern soll. Der Entwurf wurde zugleich zur letzten Lesung ans Plenum überwiesen. Die Gesetzesänderung würde der Regierung eine Mehrheit in dem Gremium und damit einen erheblichen Einfluss auf die Ernennung von Richtern verschaffen.

Der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich rief auf Twitter zu Gegenprotesten auf. «Kommt nach Jerusalem. (...) Wir sind die Mehrheit, lasst uns unsere Stimme erheben. Wir lassen uns unsere Stimme und den Staat nicht stehlen», sagte Smotrich in einem auf Twitter verbreiteten Video.

International Kritik

Auch international lösten die Pläne erhebliche Kritik aus. Selbst die US-Regierung als wichtigster Verbündeter Israels zeigte sich in einer Stellungnahme «tief besorgt»: Angesichts der geplanten «grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System» rief das Weisse Haus die israelische Führung «nachdrücklich auf, sobald wie möglich einen Kompromiss zu finden». Auch die Bundesregierung blicke mit Sorge auf die Entwicklung in Israel, teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit.

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