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Kommentar: Insel der Einsamen

Am Tag, an dem Dario Cologna, der Bündner mit italienischen Wurzeln, für die Schweiz die erste olympische Goldmedaille in Sotschi gewonnen hat, setzt eine knappe Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ein sonderbares Zeichen. Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP ist rational fast nicht erklärbar.

Südostschweiz
09.02.14 - 19:36 Uhr

Von David Sieber, Chefredaktor

Insbesondere, dass sich ein Fremdenverkehrskanton wie Graubünden von den das «Boot-ist-voll»-Argumenten überzeugen liess, bringt nicht nur Politik und (Tourismus-)Wirtschaft in Erklärungsnöte.

Daraus zu schliessen, die Schweizer seien alles Rassisten und sich der Konsequenzen ihres Entscheids gar nicht bewusst, wäre falsch. Wie seinerzeit bei der EWR-Abstimmung 1992 muss man tiefer graben. Und dann gelangt man bald zum nationalen Selbstverständnis. Dieses ist eine Mischung aus Selbstüberhöhung und Minderwertigkeitskomplexen. Die Folge sind diffuse Verlustängste, die von geschickten Politikern aus dem rechtsbürgerlichen Lager genutzt werden können. So geschehen zum Beispiel bei der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative.

Im Unterschied zu diesen rein populistischen Stellvertretervorlagen hat der Unmut über die Personenfreizügigkeit mit der EU auch handfeste, wenn auch kantonal stark unterschiedliche Gründe: Im Tessin etwa Lohndumping durch die Bevorzugung von Grenzgängern. In den Mittellandkantonen stark belastete Verkehrswege und hohe Mieten. Aber in Graubünden? Nichts von alledem. Tourismusbranche, Gesundheitswesen und Exportindustrie sind auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Probleme gibt es kaum. Von «Dichtestress» keine Spur.

Die Folgen des gestrigen Entscheids sind unabsehbar. Natürlich wird die Suppe nicht ganz so heiss gegessen, wie sie gekocht wurde. Doch schmecken wird sie nicht. Der Wechsel zurück zum Kontingentsystem dürfte nicht ganz so einfach werden, wie dies die SVP darstellt. Was mit den bilateralen Verträgen geschieht, entscheiden Brüssel und die EU-Mitgliedsstaaten, nicht die Schweiz. Dabei kann sich sehr gut herausstellen, dass die Rückeroberung eines Stückchens Eigenständigkeit mit einem weit grösseren Souveränitätsverlust zu bezahlen ist. Die SVP wird die Schuld dafür natürlich Bundesbern in die Schuhe schieben und die eigenen Hände wie gewohnt in Unschuld waschen.

Die Schweiz hat ihren Inselmythos erneuert. Nur ist das keine Insel der Glückseligen mehr, sondern der Einsamen. Christoph Blochers konservative Revolution zerstört den Liberalismus, auf dem die moderne Schweiz basiert, Schritt für Schritt. Einzige Hoffnung: Irgendwann hat noch jede Revolution ihre Kinder gefressen.

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