Selenskyj: Mehr Kontrolle im Raum Kursk - Druck in Pokrowsk
Die ukrainischen Streitkräfte haben bei ihrer Invasion im russischen Gebiet Kursk nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj weitere Gebiete unter ihre Kontrolle genommen.
Die ukrainischen Streitkräfte haben bei ihrer Invasion im russischen Gebiet Kursk nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj weitere Gebiete unter ihre Kontrolle genommen.
Es gehe um Flächen an der Grenze zur Ukraine, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. Details nannte der Staatschef nicht. Er sagte aber auch, dass erneut der Bestand an russischen Kriegsgefangenen aufgefüllt worden sei für einen weiteren möglichen Austausch.
«Danke Soldaten! Das ist das, was uns hilft, unsere Leute nach Hause zurückzuholen aus russischer Gefangenschaft», sagte Selenskyj. Zuletzt hatte es vorige Woche einen Gefangenenaustausch gegeben. Die ukrainischen Truppen waren am 6. August in Russland einmarschiert.
Russland führte indes im Gebiet Kursk in der Stadt Kurtschatow, wo das Atomkraftwerk steht, Zugangsbeschränkungen ein. Demnach wurden Kontrollposten auf den Strassen eingerichtet. Auch der Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA), Rafael Grossi, hatte sich bei einem Besuch im AKW Kursk am Dienstag besorgt gezeigt, dass der Meiler Schäden nehmen könnte durch Beschuss im Zuge der Kämpfe. Er warnte vor der Gefahr eines atomaren Zwischenfalls.
Nach Darstellung Selenskyjs verhindert die Kursk-Offensive, dass Russland den ohnehin hohen Druck auf die ostukrainische Region Donezk noch weiter erhöhen kann, weil es sich auf die Verteidigung auf seinem Gebiet konzentrieren muss. Der Druck im Gebiet Donezk sinkt demnach aber bisher nicht. Westliche Militärbeobachter bescheinigten den russischen Truppen im Kreis Pokrowsk Fortschritte. Auch Selenskyj räumte Probleme ein.
Schwierige Lage im ukrainischen Gebiet Pokrowsk
«Im Donezker Gebiet ist es äusserst schwierig, die wichtigsten russischen Anstrengungen und die grössten Kräfte sind genau dort konzentriert», sagte Selenskyj. «Sehr wichtig ist jetzt die Widerstandsfähigkeit jeder unserer Einheiten, unsere Fähigkeit, den Besatzer zu vernichten.»
Die Menschen in Pokrowsk sind zur Flucht aufgerufen. Die Behörden haben die Evakuierung der Stadt angeordnet angesichts des drohenden Vormarsches der russischen Truppen. Demnach sind noch 38.000 Menschen in der Stadt, darunter 1.900 Kinder. Der Chef der Donezker Militärverwaltung, Wadym Filaschkin, teilte mit, dass von Montag an alle Banken schliessen in Pokrowsk. Dann funktionierten nur noch Geldautomaten.
Für Russland gilt die Einnahme der wegen eines Bahnknotenpunktes wichtigen Stadt als nächstes Etappenziel in dem seit mehr als zweieinhalb Jahren andauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ein Hauptziel Moskaus ist es, das bisher grösstenteils besetzte Gebiet Donezk komplett unter russische Kontrolle zu bringen. Die russischen Truppen hatten in der Ostukraine zuletzt immer wieder Ortschaften eingenommen.
Drohnenangriffe in der Nacht
In der Nacht wehrten Russlands Streitkräfte nach eigenen Angaben mehrere ukrainische Drohnenangriffe ab. In der Grenzregion Brjansk seien unbemannte Fluggeräte abgeschossen worden, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf den Gouverneur des Gebiets. Verletzt wurde demnach niemand, Schäden habe es auch nicht gegeben.
Zudem habe das russische Militär einen ukrainischen Angriff auf Sewastopol im Süden der von Moskau annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim abgewehrt. Zwei Drohnen seien über dem Meer abgeschossen worden, teilte der Gouverneur Michail Raswosschajew laut Tass mit. Zivile Einrichtungen in der Hafenstadt seien dabei nicht beschädigt worden.
Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte unterdessen mit, Artillerieeinheiten hätten ein ukrainisches Drohnen-Kontrollzentrum samt Startvorrichtung und Soldaten des Feindes ausgeschaltet. Zum Ort des Geschehens wurden keine Angaben gemacht.
In der Ukraine gab es in weiten Teilen des Landes Luftalarm. Die ukrainische Luftwaffe warnte vor grösseren russischen Angriffen mit Kampfdrohnen. Unter anderem in der Hauptstadt Kiew sei die Luftabwehr aktiv gewesen, hiess es.
Stromabschaltungen wegen zerstörter Energieinfrastruktur
Nach den schweren russischen Luftschlägen gegen die ukrainische Energieinfrastruktur in den vergangenen Tagen dauern die Reparaturarbeiten an den Anlagen an. Der ukrainische Versorger Ukrenergo (Ukrenerho) kündigte für diesen Donnerstag erneut Stromabschaltungen an, von denen zu einzelnen Stunden bis zur Hälfte der Verbraucher in jeder Region betroffen sein kann. Geplant seien Abschaltungen von 15.00 Uhr bis 22.00 Uhr (14.00 Uhr MESZ bis 21.00 Uhr MESZ).
«Die Reparaturteams, zuständigen städtischen Dienste und die staatlichen Stellen arbeiten so hart wie sie können», sagte Selenskyj. «Wir müssen erreichen, dass sich das Defizit verringert.» Zugleich sagte der Präsident, dass bei der Sitzung des Nato-Ukraine-Rates am Mittwoch erneut auch über die Stärkung der Luftverteidigung gesprochen worden sei, um die kritische Infrastruktur im Land vor russischen Angriffen zu schützen.
Selenskyj fordert Freigabe von Raketen mit hoher Reichweite
«Alle unsere Partner müssen aktiver werden, viel aktiver, um dem russischen Terror zu begegnen», betonte Selenskyj. Wie in den vergangenen Tagen bekräftigte er seine Forderung nach Freigabe westlicher Raketen mit grosser Reichweite, um damit russisches Gebiet zu beschiessen.
«Wir bestehen weiterhin darauf, dass ihre Entschlossenheit - die Aufhebung der Beschränkungen für reichweitenstarke Raketenangriffe für die Ukraine - uns helfen wird, den Krieg so schnell wie möglich auf faire Weise für die Ukraine und die ganze Welt zu beenden», sagte Selenskyj. Bisher gelten Einschränkungen für den Einsatz der westlichen Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet.
Moskau hatte immer wieder vor einer weiteren Eskalation in dem Krieg gewarnt, sollten Nato-Staaten ihre an die Ukraine gelieferten Raketen mit hoher Reichweite freigeben, um damit Ziele weit im russischen Hinterland zu beschiessen. Bisher setzt die Ukraine dafür eigene Drohnen und Raketen ein. Selenskyj hatte am Dienstag davon berichtet, dass Kiew inzwischen selbst eine ballistische Rakete entwickelt und schon getestet habe.
Was am Donnerstag wichtig wird
Die Aussenministerinnen und Aussenminister der 27 EU-Staaten kommen zu ihrem ersten Treffen nach der Sommerpause in Brüssel zusammen. Auf der Tagesordnung stehen auch Beratungen zur Lage in der von Russland angegriffenen Ukraine. Als Gast wird unter anderen der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba erwartet, der ebenfalls erneut dafür werben will, dass die westlichen Verbündeten Raketen mit grosser Reichweite freigeben für Angriffe auf Russland.