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Selenskyj: Ermittlungen nach Mord an Politikerin laufen

Nach dem tödlichen Schuss auf die ultranationalistische Politikerin Iryna Farion im Westen der Ukraine schliesst die Führung in Kiew auch eine russische Spur nicht aus.

Agentur
sda
21.07.24 - 05:06 Uhr
Politik
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während einer Pressekonferenz. Foto: Efrem Lukatsky/AP/dpa
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während einer Pressekonferenz. Foto: Efrem Lukatsky/AP/dpa
Keystone/AP/Efrem Lukatsky

«Alle Versionen werden untersucht, einschliesslich jener, die nach Russland führt», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Farion, die wegen ihrer russenfeindlichen Äusserungen auch mit der ukrainischen Justiz Ärger hatte, war am Freitagabend vor ihrem Wohnhaus in Lwiw (Lemberg) durch einen Kopfschuss verletzt worden. Die 60-Jährige starb wenig später laut Behörden im Krankenhaus. Zum möglichen Täter gab es zunächst keine Informationen.

Es würden die Aufnahmen aller verfügbaren Überwachungskameras ausgewertet, Zeugen befragt und mehrere Stadtteile durchkämmt, sagte Selenskyj. Es seien Kräfte der Nationalpolizei und der Geheimdienste im Einsatz, um den Täter aufzuspüren. Innenminister Ihor Klymenko, der ebenfalls eine russische Spur nicht ausgeschlossen hatte, die Chefs der Polizei und des Geheimdienstes sowie Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft seien in Lwiw, um die Ermittlungen zu kontrollieren. Selenskyj sprach den Angehörigen Farions, die zeitweilig auch Parlamentsabgeordnete der rechtsnationalistischen Partei Swoboda in der Obersten Rada in Kiew gewesen war, sein Beileid aus.

Farion bekämpfte russische Sprache in der Ukraine

Die Philologin Farion hatte vor allem die in der Ukraine verbreitete russische Sprache mit radikalen Aussagen bekämpft. Ihre Partei Swoboda vermutet deshalb eine russische Spur in dem Mordfall. Innenminister Klymenko sieht einen Zusammenhang zwischen dem Attentat und Farions gesellschaftlicher Tätigkeit. «Die grundlegenden Versionen, die derzeit in Betracht gezogen werden, sind persönliche Feindseligkeit, soziale und politische Aktivitäten von Frau Farion. Wir schliessen nicht aus, dass es sich um einen Auftragsmord handelt», schrieb der Minister bei Telegram.

Mögliche russische Spur und Genugtuung in Moskau

Farion hatte wegen Äusserungen, die sich gegen die russischsprachige Bevölkerung richteten, auch Ärger mit der ukrainischen Justiz. Sie verlor etwa nach Protesten von Studierenden zeitweilig ihre Stelle an der Universität, an der sie Ukrainisch lehrte. Unter anderem hatte die Professorin scharf kritisiert, dass viele ukrainische Soldaten an der Front weiter ihre Muttersprache Russisch sprechen. Für den Kampf gegen den russischen Angriffskrieg kaufte sie nach eigenen Angaben selbst auch Drohnen.

Farion stand vielfach in der Kritik, die ukrainische Gesellschaft gespalten zu haben. Die russische staatliche Propaganda nahm die Nachricht vom Tod der Politikerin indes mit Genugtuung auf. «Iryna Farion, die von der »vollständigen Beseitigung« der russischsprachigen Bevölkerung träumte, ist beseitigt worden. Gott regelt die Sache dort auch ohne uns», schrieb die Chefredakteurin des russischen Staatsfernsehsenders RT, Margarita Simonjan.

Bürgerrechtler sehen russische Hochschulen unter Druck

Derweil erstickt die Moskauer Führung wegen des Ukraine-Krieges weiter jede mögliche Quelle von Kritik. Das gilt nach Einschätzung von Bürgerrechtlern auch für die Hochschulen. Sie sehen durch die Repression in Russland Universitäten und Hochschulen unter einem stärkeren politischen Druck.

Die Organisation Molnija, die sich für die Rechte von Studierenden einsetzt, verzeichnet seit Kriegsbeginn 2022 deutlich mehr Fälle von Zwangsexmatrikulationen. Wegen Kritik am Krieg oder wegen sonstiger politischer Motive würden Studenten und Studentinnen aus den Hochschulen entfernt. Eine Studie zur Hochschulfreiheit in Russland listet für 2023 mehrere Fälle auf, bei denen auch Dozenten aus politischen Gründen entlassen oder bestraft wurden. Genaue Zahlen über die Entwicklung von Hochschulverweisen aus politischen Gründen gibt es allerdings nicht.

In Russland lernen nach offiziellen Angaben etwa 4,3 Millionen Studierende an rund 1.000 Unis und Hochschulen. Die Hochschulen seien einer der empfindlichsten Bereiche der Gesellschaft, sagte die Journalistin Wera Ryklina vom Medienprojekt «Strana i mir» bei einer Veranstaltung der Deutschen Sacharow-Gesellschaft. Russland richte sich auf einen langanhaltenden Konflikt mit dem Westen ein. An der Hochschulpolitik lasse sich ablesen, welche Gesellschaft der russische Staat unter Kremlchef Wladimir Putin anstrebe.

Militarisiertes Studium und Verweise bei Demo-Teilnahme

Zu diesem Bild gehörten eine Militarisierung und ideologische Indoktrinierung, erläuterte der exilierte russische Soziologe Dmitri Dubrowski, ein Autor der Studie zur Hochschulfreiheit für das Forschungszentrum Cisrus in den USA. Die Militärausbildung sei zurückgekehrt, zur patriotischen Erziehung würden Fächer wie «Grundlagen der russischen Staatlichkeit» oder «Religionen Russlands» eingeführt. Geheimdienstoffiziere rückten in Uni-Verwaltungen ein. Linientreue Studenten oder Dozenten durchforsteten die Konten ihrer Kommilitonen oder Kollegen in sozialen Netzwerken auf abweichende Meinungen, sagte Dubrowski.

Studierende würden oft von der Hochschule verwiesen, wenn sie an nicht genehmigten Demonstrationen teilnehmen, berichtet die Organisation Molnija. Begründet werde dies mit einem Verstoss gegen die Verhaltensregeln der Hochschule. Gefährdet seien vor allem Studierende, die sich sozial oder gewerkschaftlich engagieren oder journalistisch arbeiten. Demonstrationen werden in Russland immer noch unter Verweis auf den Schutz vor Corona untersagt.

Molnija erklärt, dass in den Jahren vor dem Krieg jeweils nur eine Handvoll Fälle von Hochschulverweisen aus politischen Gründen bekannt geworden waren. In den Kriegsjahren 2022 und 2023 seien es gleich mehrere Dutzend gewesen. Entlassene Studenten seien weitgehend ungeschützt, sagte eine Juristin von Molnija anonym bei der Sacharow-Gesellschaft. Sie hätten keine Arbeit, staatliche Stellen lehnten den Kontakt mit ihnen ab, ihnen drohe die Einberufung zum Wehrdienst. Tausende kritische Studenten und Dozenten haben sich wegen des Krieges ins Ausland abgesetzt.

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