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«Gerigate» – Märchen für Erwachsene

Seit zehn Tagen bewegt die Nacktselfie-Affäre um Grünen-Nationalrat Geri Müller das Land. Noch ist die Faktenlage nicht restlos geklärt, doch schon jetzt steht fest: «Gerigate» folgt den typischen Linien eines Medienskandals. Eine Analyse.

Südostschweiz
26.08.14 - 20:21 Uhr

Von Dennis Bühler

Jeder Skandal hat seine Ikone, sein Sinnbild. Bei der Affäre um Armeechef Roland Nef und dessen Vorgesetzten Samuel Schmid etwa war es eine Aufnahme von der Pressekonferenz am 12. November 2008, an welcher der Verteidigungsminister nach monatelanger Skandalisierung seinen Rücktritt bekanntgab. Urplötzlich zierten rote Flecken sein weisses Hemd. Vor versammelter Medienschar machten sich beim gescheiterten Bundesrat körperliche Symptome bemerkbar: sein Nasenbluten war kaum zu stillen.

Auch der Skandal um Geri Müller hat sein Bild: Der Grünen-Nationalrat bahnt sich nach der Pressekonferenz am vergangenen Dienstag einen Weg aus dem Saal, in dem er öffentlich Busse getan hat für die Nacktselfies, die er einer 33-jährigen Bekannten geschickt hatte. Die Journalisten blicken ihm nach, vom WoZ- über den NZZ- bis zum Tele-Züri-Redaktor. Einzig Patrik Müller, der Chefredaktor der «Schweiz am Sonntag», der die Skandalisierung ausgelöst hat, zeigt ihm, kaum einen Meter entfernt sitzend, die kalte Schulter. Geri Müller hat die Augen zusammengekniffen, als wüsste er, dass die Affäre längst nicht ausgestanden ist – dass sie jetzt erst richtig losgeht.

Worum geht es bei einem Medienskandal wie dem Fall Müller? Was ist typisch, was atypisch am Verlauf der vergangenen zehn Tage? Wie erzählen die Medien den Skandal, wie treiben sie ihn voran? Es folgt ein Versuch, mithilfe der Skandaltheorie ein paar Antworten zu finden.

Sofort wird die Skandalisierung multipliziert

Mit der Erstberichterstattung der «Schweiz am Sonntag», dem Schlüsselereignis, nahm die Skandalisierung ihren Anfang. Ein Kennzeichen des modernen Medienzeitalters ist, dass der Skandal sofort multipliziert wird. Nach Mitternacht, als der Artikel online verfügbar war, wurde er auf sozialen Plattformen geteilt, am Sonntagmorgen reagierten Onlineportale früh und vehement, auch die Nachrichtenagentur SDA stieg in die Berichterstattung ein. Die Hektik muss gross gewesen sein. «20min.ch» etwa schaffte es, falsch aus der «Schweiz am Sonntag» zu zitieren und aus der Zeitangabe «21 Uhr» zu schliessen, Geri Müllers Chat-Bekannte sei «21-jährig» – die falsche Altersangabe wurde erst am Dienstagvormittag vom Grünen-Politiker selbst richtiggestellt.

Die «Schweiz am Sonntag» versuchte von Anfang an, dem Fall Geri Müller eine politische Note zu verleihen, obgleich sich die ursächlich skandalisierten Vorgänge – die Aufnahme der Nacktselfies – in der Privatsphäre Müllers abgespielt hatten. «Auch aus dem Nationalratssaal schickte der Politiker seiner damaligen Geliebten fragwürdiges Bildmaterial», schrieb Patrik Müller. Wohlgemerkt: Die Bilder hatte Geri Müller nicht im Nationalratssaal aufgenommen, sondern nur von dort verschickt, wie ein paar Zeitungsseiten weiter hinten in Klammern angemerkt wurde. An selber Stelle begründete Journalist Müller, weshalb die Publikation aus seiner Sicht angebracht war: «Ginge es nur um Privates, hätten die Bilder in der Öffentlichkeit nichts zu suchen», schrieb er. «Doch der Stadtammann – Jahreslohn 260 000 Franken – hat an seinem Arbeitsort und teilweise während der Arbeitszeit Sex-Chats geführt.»

Trotz des Bemühens, eine politische Relevanz zu beschwören, stellte Patrik Müller jenen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Berichterstattung, mit dem die fettesten Schlagzeilen zu machen waren: Sex. Nicht zufällig lautete der Titel des Artikels: «Nacktselfies aus dem Stadthaus.» Den allfälligen Ungereimtheiten um den Polizeieinsatz und dem implizierten Machtmissbrauch Geri Müllers (auf den heute nichts mehr hindeutet) mass er geringere Bedeutung zu. Der Zeitung ging es um die moralische Anstössigkeit der Handlungen des Politikers. Andere Medien adaptierten diese Erzählweise. Der «Blick» etwa schrieb in seiner typisch verkürzenden und verletzenden Weise, «Grüsel-Geri» lasse «die Hosen runter».

Das Duell zwischen Held und Antiheld

Erst spät trat Geri Müller die Flucht nach vorne an. Am Dienstagvormittag lud er zur Pressekonferenz, am -abend nahm er im «Medienclub» des Schweizer Fernsehens SRF Stellung. Ihm gelang das Meisterstück, das bei Medienskandalen selten gelingt: Er kehrte die Stimmung. Müller, von Medienanwalt Andreas Meili gut beraten, entschuldigte sich öffentlichkeitswirksam, er zeigte Reue und wirkte glaubwürdig. Müller sprach Unangenehmes direkt an, sagte mehrfach, sein Verhalten sei ein «Seich» gewesen.

Dieser erste Schritt hin zu seiner Rehabilitation ermöglichte einen politisch-publizistischen Konflikt um die Deutungshoheit: Jene Stimmen, die der Geschichte der «Schweiz am Sonntag» ihre Relevanz absprachen und damit die Rechtmässigkeit der Veröffentlichung verneinten, erhielten Auftrieb. Die Kritik an «Schweiz am Sonntag»-Chefredaktor Patrik Müller wurde lauter: Die WoZ forderte seinen Rücktritt, zahlreiche Journalisten gingen auf Distanz zu ihm.

Als grosser Gegenspieler Geri Müllers aber taugte Namensvetter Patrik nicht, zu simpel erschien sein Interesse an der Veröffentlichung (Verkaufssteigerung). Erst die beiden Personen, die der «Tages-Anzeiger» respektive der «Blick» in ihren Donnerstagsausgaben ins Spiel brachten, kreierten jene Konfliksituation zwischen Held und Antiheld, jenen Kampf zwischen Gut und Böse, wie er für Medienskandale typisch ist (wobei freilich nicht jeder Leser dieselben Seiten als gut und schlecht taxieren muss): Sacha Wigdorovits und Josef Bollag. PR-Berater Wigdorovits habe im Hintergrund die Fäden gezogen, berichtete der «Tages-Anzeiger», er habe die Weitergabe der Nacktselfies an die Medien organisiert. Und der «Blick» schrieb, Geri Müller versuche Josef Bollag in die Affäre hineinzuziehen, den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Baden.

Was die Skandalforschung prophezeit, war nun Tatsache: Die Narration des Medienskandals erinnerte an ein Märchen für Erwachsene (oder, wie der «Blick» am Freitag schrieb: an einen «Thriller»). Komplexität wurde so weit reduziert, dass der «Blick am Abend» sogar von einer «jüdischen Verschwörung» zu schreiben wagte – was Anfang dieser Woche von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus verurteilt wurde, weil mit dem Verbreiten von antisemitischen Vorurteilen und Stereotypen das Klima in der Schweiz vergiftet werde.

Aktualisierung der moralischen Konventionen

«Der Verweis auf die öffentliche Moral ermöglicht den Skandalisierern, den Skandalisierten mit Details aus dessen eigentlich geschützter Privatsphäre zu skandalisieren», notierte der Hamburger Publizistikprofessor Steffen Burkhardt 2006 in seinem Standardwerk über Medienskandale. Angegriffen wird zumeist die soziale Reputation des Skandalisierten. Ist diese erst einmal zerstört, nützt einer auf Öffentlichkeit angewiesenen Person auch eine intakte funktionale Reputation nichts mehr.

Tatsächlich erhielt Geri Müller für seine Arbeit als Badener Stadtammann überwiegend gute Noten. Als Nationalrat war und ist er zwar umstritten (unter anderem, weil er 2012 Vertreter der radikalislamischen Hamas im Bundeshaus empfing), doch hat er sich in letzter Zeit gemässigt. Kritisiert wurde Müller denn auch nicht für seine politische Arbeit, die Angriffsflächen genug böte, attackiert wurde seine soziale Reputation. Er genüge moralischen Ansprüchen nicht, wurde impliziert, er verletze gesellschaftliche Normen und Werte.

In der öffentlichen Arena, die von den Massenmedien abgebildet wird, entscheidet sich, ob die «Schweiz am Sonntag» mit ihrer Moralisierung eine Mehrheit findet. Momentan deutet wenig darauf hin. Trotzdem ist offen, ob Geri Müller seine Politkarriere fortsetzen kann. Fest steht: In einem Medienskandal werden moralische Konventionen aktualisiert.

Die Empörung hat sich gegen die Medien gewendet

Wann ist ein Skandal von Erfolg gekrönt? «Wenn der Skandalisierer und – falls nicht deckungsgleich – das Skandalmedium situativ glaubwürdig sind, das Publikum empörungssensibel und unterhaltungsorientiert ist und die Trennung des Skandalisierten von seinen sozialen und/oder politischen Gruppenbindungen gelingt», hat der Schweizer Skandalforscher Kurt Imhof 2002 festgehalten. Dies erklärt, weshalb es momentan nicht danach aussieht, als ob «Gerigate» im Rücktritt Geri Müllers enden würde:

  • Die «Schweiz am Sonntag» und die Skandalisierer um Sacha Wigdorovits  haben ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Erstere hat die einzig akzeptable Begründung für die Berichterstattung – den Verdacht eines Amtsmissbrauchs Geri Müllers – nicht aufrechterhalten können; und die Skandalisierer um Wigdorovits haben stets nur zugegeben, was ihnen nachgewiesen werden konnte – eine Salamitaktik, die einem PR-Berater schlecht ansteht.
  • Das Publikum ist zwar empörungssensibel und unterhaltungsorientiert: Sonst wäre es kaum möglich gewesen, «Gerigate» während mittlerweile zehn Tagen am Köcheln zu halten, obwohl die Schweiz und die Welt doch weissgott genügend andere Probleme haben. Nur: Die Empörung hat sich bei vielen gegen die Medien gewendet. Dies erklärt sich zum einen durch ein gelungenes Skandalmanagement von Geri Müller und dessen Anwalt Meili, der einzelnen Medien gezielt Informationen zuhielt, welche die Glaubwürdigkeit der Chat-Bekannten Müllers unterminierten. Zum anderen ist dies einem Medienjournalismus zu verdanken, der im Fall Müller funktioniert hat: Schon früh wurde die Berichterstattung der «Schweiz am Sonntag» infrage gestellt, in anderen Zeitungen, im «Medienclub» auf SRF, in Blogs und auf Twitter.
  • Zuerst deutete einiges darauf hin, dass die Trennung Geri Müllers von seinen politischen Freunden gelingen könnte. «Üble Sache, Geri. Deine Integrität ruhe in Frieden», twitterte die Grüne Partei Aargaus, kaum lag die Ausgabe der «Schweiz am Sonntag» vor zehn Tagen in den Briefkästen. Später aber nahm sie diesem Tweet die Dramatik, indem sie ihn als «Einzeläusserung in der Hitze des Gefechts» bezeichnete. Entgegen der Erwartungen ging der politische Betrieb nicht auf Distanz zum Nationalrat und Stadtammann. Zwar forderten die bürgerlichen Parteien auf kommunaler Ebene seinen Rücktritt; doch auf nationaler Ebene blieben Rücktrittsforderungen aus. Und auch der Badener Stadtrat dispensierte Müller zwar, liess ihn aber nicht fallen. Stets hiess es, eine Rückkehr ins Amt sei möglich.

Brutaler als der Pranger des Mittelalters

In vielem ist der Fall Müller ein Paradebeispiel eines Medienskandals – denn erst durch die Berichterstattung der «Schweiz am Sonntag» wurden die Nacktselfies von Geri Müller zum Skandal, erst die Veröffentlichung und die darauf folgenden Recherchen und aufgedeckten politischen Verstrickungen schufen eine (Schein-)Relevanz. Speziell ist die Affäre jedoch insofern, als sich der Skandalisierte im Amt halten könnte. Und dafür der Druck auf jene steigt, die die Veröffentlichung zu verantworten haben.

Und so erinnert «Gerigate» an die medienethische Verantwortung eines jeden Journalisten. Denn in einem ist der moderne Medienpranger sogar brutaler als jener, der moralisch Fehlbare im Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert öffentlicher Schande aussetzte: Stand der Pranger früher am Ende eines Skandals, steht er im Medienzeitalter an dessen Beginn. Zuerst wird gebrandmarkt, dann hinterfragt.

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