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Der Netstaler Christian Brülhart will bei der Behindertensession mitreden

Im März lädt Nationalratspräsident Martin Candinas zur ersten Behindertensession der Schweiz. Über 200 Menschen haben sich beworben, darunter Christian Brülhart aus Netstal.

Sara
Good
21.01.23 - 04:30 Uhr
Politik
Einer von über 200 Bewerbenden: Christian Brülhart aus Netstal hofft, dass er an der Behindertensession in Bern teilnehmen kann.
Einer von über 200 Bewerbenden: Christian Brülhart aus Netstal hofft, dass er an der Behindertensession in Bern teilnehmen kann.
Bild Sasi Subramaniam

Rund jede fünfte Person in der Schweiz hat eine Behinderung, wie Zahlen des Bundes zeigen. Trotzdem werden viele von ihnen immer noch ausgeschlossen. «Ich würde mir wünschen, dass Menschen mit Beeinträchtigung als ganz normale Mitglieder der Gesellschaft angeschaut werden», erzählt Christian Brülhart. Auch er wurde ausgegrenzt, in Schubladen gesteckt, unterschätzt – besonders auf dem Arbeitsmarkt.

Der Kaufmännische Angestellte erhielt erst im Alter von 27 Jahren eine Diagnose: ADS, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Eine Krankheit, die sich ganz unterschiedlich äussert. Brülhart fiel auf, weil er verträumt ist, sich in Details verliert oder zu wenig konzentriert arbeitet. Der Netstaler nennt ein Beispiel: «Zum Teil musste ich ‹einfache› Arbeiten erledigen und Briefe in Kuverts einpacken, stundenlang. Dann hängte es mir aus.» Erst nach einer Abklärung der IV erhielt er Gewissheit: «Nach der Diagnose war ich erleichtert. Ich habe ja gemerkt, dass etwas nicht ganz gleich war wie bei den anderen.» Nach mehreren Kündigungen kriegte er eine geschützte Stelle bei einer Firma in Zürich-Höngg. Dort entdeckte er seine Begabung für IT.

Automatisch in Schubladen gesteckt

Christian Brülhart bewarb sich auf dem regulären Arbeitsmarkt und erhielt eine Stelle als Kundensupporter. Nach sieben Jahren folgte wiederum eine Kündigung. Der Antrag an die IV mündete in einer weiteren Diagnose: Asperger-Syndrom, Schwierigkeiten bei der Kommunikation und dem sozialen Kontakt. Mit diesen Voraussetzungen war es für Brülhart quasi unmöglich, wieder eine Stelle zu finden. «Bei der Bewerbung sind viele Menschen voreingenommen, wenn man wie ich etwas mit der IV zu tun hat», so Brülhart nachdenklich. Er findet es schade, dass es beim Bewerbungsgespräch nicht um den Menschen gehe, sondern dass er automatisch in eine Schublade gesteckt werde.

Seit zehn Jahren beschäftigt er sich mit der Inklusion, also der Frage, wie Menschen mit einer Behinderung in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft teilnehmen können. Ganz ohne Hürden. Auch politisch möchte Christian Brülhart diese Forderung einbringen. Im letzten Jahr kandidierte er für die SP als Landrat, im März möchte er an der Behindertensession teilnehmen. Diese findet zum ersten Mal statt. Der Nationalratspräsident Martin Candinas lädt am 24. März nach Bern ein. Auf diesen Aufruf haben sich laut Pro Infirmis über 200 Menschen beworben, für die 44 freien Plätze findet deshalb bis am 21. Januar ein Voting statt.

Politische Bühne

Dass Menschen mit einer Behinderung am politischen und öffentlichen Leben teilnehmen können, ist in der UNO-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Der Zugang zur Politik ist für sie aber immer noch erschwert oder gar unmöglich. «An der Behindertensession kommt dieser unterrepräsentierte Anteil der Schweizer Bevölkerung zu Wort und erhält die ihm zustehende politische Bühne», heisst es auf der Webseite von Pro Infirmis.

Christian Brülhart ist der einzige Bewerber aus dem Glarnerland und würde seine Anliegen und den Kanton gerne in Bern vertreten. «Ich würde mich freuen, wenn ich dabei sein darf. Einfach damit ich mitbestimmen und neue Kontakte knüpfen kann», sagt der 60-Jährige. Brülhart engagiert sich auch auf kantonaler Ebene.

Eine Handvoll Personen haben sich 2021 zum Verein «Mitsprache Glarnerland» zusammengeschlossen, bei dem er im Vorstand ist. Denn auch hier werden Menschen diskriminiert. Besonders eingefahren ist ihm eine Episode von einem Vereinskollegen, der in einem Café ein Gespräch am Nebentisch verfolgt hat. «Beim Gespräch ist der Satz gefallen, dass Menschen mit Beeinträchtigung gar kein Lebensrecht haben dürfen. Er war entsetzt», berichtet Brülhart nachdenklich. Sein wichtigstes Ziel sei es, dass alle Menschen integriert sind, egal welche Beeinträchtigung sie haben. «Ganz egal, was bei ihnen abweicht vom ‹sogenannt Normalen›», so Brülhart. Ein Grinsen kann er sich bei dieser Formulierung nicht verkneifen.

Für die Kandidatinnen und Kandidaten der Behindertensession kann man hier noch bis am Samstag, dem 21. Januar, abstimmen.

Warum der Titel «Behinderten»-Session?

Die Behindertensession ist eine Spezialsession für Menschen mit Behinderungen. Wie auf der Website von Pro Infirmis steht, wurde der Name bewusst so gewählt. Denn der Name gehe von einer gesetzlichen und sprachlichen Realität aus, wie das «Behindertengleichstellungsgesetz» oder die «Behindertenrechtskonvention» zeigen.Die mögliche Verwirrung oder Provokation durch den Begriff «Behinderte» nehmen die Verantwortlichen also bewusst in Kauf. Denn der Begriff irritiere nur, weil das Thema negativ behaftet oder tabuisiert werde. Das sei kontraproduktiv, denn «nur wenn Themen beim Namen genannt werden, können sie auch angegangen werden.»

Sara Good verantwortet die Glarner Inhalte auf «suedostschweiz.ch». Zudem kreiert sie multimediale Inhalte und schreibt Artikel für die «Glarner Nachrichten». Sie hat den Diplomlehrgang am MAZ absolviert und Multimedia Production in Chur studiert. Mehr Infos

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