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Fluthelfer im Kriegsgebiet Cherson: «Sie schiessen die ganze Zeit»

Mit ihren Haustieren und kleinem Handgepäck im Rettungsboot verlassen viele Menschen im Kriegsgebiet im Süden der Ukraine nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms ihre von der Flut zerstörten Häuser.

Agentur
sda
09.06.23 - 15:35 Uhr
Politik
Die Fluten eines zusammengebrochenen Staudamms haben weite Teile der Region Cherson unter Wasser gesetzt. Foto: LIBKOS/AP/dpa
Die Fluten eines zusammengebrochenen Staudamms haben weite Teile der Region Cherson unter Wasser gesetzt. Foto: LIBKOS/AP/dpa
Keystone/AP/LIBKOS

Ganze Dörfer, Tausende Häuser stehen im Gebiet Cherson unter Wasser. Oft ragen nur noch die Dächer heraus, wie Drohnenaufnahmen aus der Krisenregion zeigen. Tausende lassen sich in Sicherheit bringen, aber viele können nicht loslassen. «Viele Bewohner stehen unter Schock, sie denken, wenn das Wasser weg ist, wird alles gut. Aber das wird es nicht», sagt Helfer Wlad Pojanskyj von der ukrainischen Hilfsorganisation Vostok SOS.

«Es ist das Härteste, die Leute zu überzeugen, dass alles verloren ist, dass sie ihr Hab und Gut aufgeben sollen», sagt der 33-Jährige in einem Videogespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Pojanskyj gehört in Cherson zum Evakuierungsteam. Über fünf Meter hoch steht dort das Hochwasser am Freitag.

Die Menschen haben nach dem Einmarsch der russischen Truppen die Besatzung überstanden, sich über ihren Rückzug gefreut – und müssen nun zusehen, wie ihr Leben in den Fluten versinkt. «Dabei hält der Beschuss an. Sie schiessen die ganze Zeit, während wir versuchen, die Leute in Sicherheit zu bringen. Sie wollen das Chaos nur noch grösser machen», sagt Pojanskyj über die Russen. Die Besatzer sind von Cherson aus gesehen auf der anderen Uferseite.

«Wir erhalten aus dem besetzten Gebiet viele Hilferufe, aber können nichts tun. Wir sind keine Soldaten», sagt er traurig. Auf der rechten Uferseite, die unter Kontrolle der Ukraine steht, laufe die Hilfe gut, es gebe viele Freiwillige.

Doch Pojanskyj erwartet, dass die richtigen Probleme erst noch kommen. «Es gibt unfassbar viele tote Tiere, so viele verendete Hunde, die Kadaver sind überall zu sehen. Es wird Seuchen geben.» Für die Bewohner sei die Lage aber auch wegen des fehlenden Trinkwassers gefährlich, Quellen und Brunnen seien geflutet. Rund 80 Ortschaften liegen im Überschwemmungsgebiet.

Die Organisation Vostok SOS, für die Pojanskyj arbeitet, hat gerade vier motorisierte Schlauchboote, die der Strömung standhalten, an den Katastrophenschutz übergeben. Damit sollen Einsatzkräfte eingeschlossene Menschen in den Flutgebieten noch schneller erreichen können.

Viele harren auf ihren Dächern aus. Vostok SOS arbeitet mit der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe zusammen. «Ich will ehrlich sein, Geld hilft uns am meisten, weil wir Dinge, die wir brauchen, hier in der Ukraine schnell besorgen können», sagt Pojanskyj, der die deutsche Spendenbereitschaft lobt.

Trotzdem seien auch Hilfslieferungen wichtig, sagt in Kiew der Büroleiter der Diakonie Katastrophenhilfe in der Ukraine, Andrij Waskowycz, der dpa. «Lastwagen mit humanitärer Hilfe aus den Zentren von Vostok SOS in Uschhorod und Dnipro sind bereits auf dem Weg in Richtung Mykolajiw, wo Evakuierte temporär untergebracht werden», erklärt Waskowycz. Schon seit Kriegsbeginn vor mehr als 15 Monaten würden Nahrung und Hygieneartikel geliefert.

Auch das Technische Hilfswerk (THW) und das Deutsche Rote Kreuz sowie andere Hilfsorganisationen sind in der Katastrophenhilfe aktiv. Aber vor allem fordert die Regierung in Kiew, dass Helfer der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Zugang zu den besetzten Gebieten erhalten.

Dort sind weitaus mehr Menschen betroffen von den Folgen der Staudamm-Katastrophe. Die ukrainische Führung wirft den Besatzern vor, nicht nur den Staudamm gesprengt zu haben, sondern die Leute nun auch im Stich zu lassen.

Tatsächlich spielt die russische Seite die Folgen seit der Zerstörung des Damms am Dienstag herunter. Staatsmedien in Moskau berichten von einer «Überschwemmung», während Kiew von der «grössten menschengemachten Umweltkatastrophe» spricht und die Flut mit dem Einsatz einer «taktischen Atombombe» vergleicht.

Von mindestens acht Toten und Dutzenden Verletzten ist auf der von Russland besetzten linken Seite des Flusses Dnipro die Rede. «Leider gibt es Opfer, das ist unausweichlich bei einer Katastrophe diesen Ausmasses», sagt der örtliche Besatzungschef Wladimir Saldo. 5800 Menschen seien bisher gerettet worden. Von unabhängiger Seite ist das nicht zu überprüfen.

Saldo rechnet mit einem weiteren Anstieg des Wassers womöglich noch für Tage. Schon jetzt seien mehr als 22 200 Häuser unter Wasser, in 17 Ortschaften. Bis zu 12 Meter hoch steht demnach teils das Wasser.

Angesichts der dramatischen Bilder von vor Ort ist es für viele schwer zu glauben, dass es am Ende nicht viel mehr Opfer sein werden. Fast schon in Dauerschleife zeigt Russlands Staatsfernsehen Aufnahmen von Rettern, die Menschen in Tragen durch knietiefes Wasser hieven oder in Booten in Sicherheit bringen.

Eine Nachrichtensprecherin verkündet froh, dass Präsident Wladimir Putin - der übrigens anders als sein ukrainischer Kollege Wolodymyr Selenskyj nicht ins frontnahe Flutgebiet reisen will - «die Situation unter Kontrolle hat». Der Kreml kontrolliert vor allem den Nachrichtenfluss in Russland. Unabhängige Informationen aus den besetzten Gebieten dringen kaum nach aussen.

In sozialen Netzwerken kursieren derweil Amateur-Videos, die unter anderem zeigen sollen, wie ukrainische Helfer eine im Stich gelassene Familie im eigentlich russisch besetzten Ort Oleschky aus der Luft per Drohne mit Trinkwasser versorgen und dann mit einem Boot retten. Medien feiern das als Sensation. Ein Junge umarmt später einen ukrainischen Soldaten glücklich.

Die ukrainische Führung beklagt aber, dass der Grossteil der Menschen aus dem besetzten Gebiet nicht fliehen kann in die von Kiew kontrollierten Regionen.

Die kremlkritische russische Zeitung «Nowaja Gaseta», die mit Anwohnern der besetzten Dörfer in Kontakt steht, berichtet von Tausenden Hilferufen in Chatgruppen und Menschen. «Menschen sitzen auf Dächern, sie werden nicht evakuiert, die Boote fahren vorbei», sagt demnach etwa ein Einwohner von Oleschky namens Sergej. Auch Strom, Gas und Wasser soll es nicht geben.

Das ukrainische Fernsehen zeigt die Bewohnerin Tamara im von Kiew kontrollierten Dorf Tschornobajiwka, die bis zu den Knien im Wasser in ihrer Küche steht und verzweifelt ist, weil sie nicht weiss, wie es weiter gehen soll. Sie ist überzeugt, dass die russischen Truppen den Staudamm gesprengt haben: «Ich würde diesen Putin, wenn sie ihn mir geben würden, in kleine Stücke zerreissen.»

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