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Aus dem Chaos zum Musterschüler: Grossbritannien und die Pandemie

Pub-Besitzer in London rollen die ersten Fässer Richtung Zapfhahn und putzen ihre Sitzmöbel im Biergarten, Friseure vergeben Termine im Akkord und die Ferienwohnungen in Cornwall sind so gut wie ausgebucht. In England stehen die Zeichen auf Lockerung.

Agentur
sda
08.04.21 - 17:20 Uhr
Politik
Ein Mitarbeiter ordnet Bücher in der London Library am St. James Square vor der geplanten Wiedereröffnung am 12. April. Foto: Dominic Lipinski/PA Wire/dpa
Ein Mitarbeiter ordnet Bücher in der London Library am St. James Square vor der geplanten Wiedereröffnung am 12. April. Foto: Dominic Lipinski/PA Wire/dpa
Keystone/PA Wire/Dominic Lipinski

Am 12. April öffnen unter anderem Biergärten, etliche Geschäfte und erste Unterkünfte. Grossbritannien zeigt, dass es geht. Aber Moment - Grossbritannien!? War da nicht was? Spult man rund drei Monate zurück, schien undenkbar, dass der Chaot im Klassenzimmer der Pandemie einmal zum Musterschüler werden könnte.

England, das war damals die Brutstätte einer gefürchteten ansteckenden Variante - ein Ort, vor dem sich die Welt kurz vor Weihnachten panisch abzuschotten versuchte. Ein Land mit einer verheerenden Todesbilanz von mittlerweile fast 150 000 Toten im Zusammenhang mit Corona und einer Regierung, die in Sachen Pandemiebekämpfung so ziemlich alles falsch gemacht hatte, was man nur falsch machen konnte. Was ist also passiert?

Die Antwort liegt nahe: Es wurde geimpft. So viel wie sonst fast nirgendwo, knapp die Hälfte der Bevölkerung hat mindestens eine erste Corona-Impfung hinter sich. Die ersehnte Herdenimmunität sei in greifbarer Nähe, jubelt bereits die erste regierungsnahe Zeitung. Der Erfolg der britischen Impfkampagne versetzt das Land in eine Situation, von der der Grossteil der Welt bislang nur träumen kann. Doch das Impfen ist nur ein Teil der Antwort.

Zur Wahrheit gehört auch: Seit Monaten leben die Briten ohne viel Murren unter härtesten Massnahmen. Über Monate hinweg durften die Menschen - bis auf wenige Ausnahmen - nicht eine einzige Person ausserhalb des eigenen Haushalts treffen und sich auch nicht ohne triftigen Grund aus dem eigenen Viertel bewegen. «Bleibt zu Hause, schützt das Gesundheitssystem, rettet Leben», so das allgegenwärtige Mantra. Private Reisen ins Ausland sind seit Monaten strikt verboten.

Schottland, Wales und Nordirland, die ihre Corona-Massnahmen unabhängig von London entscheiden, fahren einen ähnlich harten Kurs - und das bei einer deutlich entspannteren Infektionslage. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei 37 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche. Auf dem europäischen Kontinent liegt sie zumeist weit höher.

Spätestens nach dem katastrophalen Winter, in dessen dunklen Januarwochen man im besonders hart getroffenen London zu den Tönen von Krankenwagen-Sirenen aufwachte und wieder einschlief, scheint die konservative Regierung aus ihren Fehlern gelernt zu haben. Im Februar zeigte Premier Boris Johnson den Menschen in England seinen Weg aus dem Lockdown auf - und ist seither nicht davon abgewichen.

Offene Schulen seit März, Biergärten und Shoppen ab Mitte April, private Besuche und möglicherweise Reisen ab Mitte Mai, so sieht es der «vorsichtige, aber unwiderrufliche Weg» vor, den Johnson nicht müde wird zu betonen - und auf dessen Zwischenetappen er sich auch selbst offenbar freut. «Am Montag, den 12., werde ich selbst zu einem Pub gehen und vorsichtig, aber unwiderruflich, ein Bier an meine Lippen führen», liess der Premier am Ostermontag wissen.

Der Lockerungsprozess endet am 21. Juni, an dem der Grossteil aller Corona-Massnahmen in England aufgehoben werden soll. Ein Datum, mit dem mittlerweile Textilfirmen für ihre Post-Lockdown-Outfits werben und Twitter-Accounts die Tage bis zur grossen Freiheit zählen.

Das Bemerkenswerte: Der Grossteil der Menschen macht mit. Bis auf ein paar hundert, die sich hin und wieder auf Anti-Lockdown-Demos versammeln, und einige illegale Partys von Jugendlichen, die die Polizei jedes Wochenende aufzulösen hat, hält sich der Widerstand in Grenzen. Vielleicht, weil es eine Perspektive gibt.

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