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Protest trotz Drohung und Festnahmen: Zehntausende gegen Lukaschenko

Trotz eines Aufmarschs von Soldaten in Kampfmontur und mit Sturmgewehren haben Zehntausende in Belarus (Weissrussland) den sechsten Sonntag in Serie den Rücktritt von Staatschef Alexander Lukaschenko gefordert. «Lukaschenko, uchodi!» - zu Deutsch: «Hau ab!» - skandierte der Protestzug in der Hauptstadt Minsk auf der Strasse «Prospekt der Sieger» und an einem Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs. Der Machtapparat zog am Sonntag Hundertschaften von Polizei und Armee zusammen, um den «Marsch der Gerechtigkeit» zu verhindern. Beobachter sprachen von mehr als 50 000 Teilnehmern - das sind weniger als zuletzt. Menschenrechtler berichteten am frühen Abend von mehr als 100 Festnahmen in Minsk und anderen Städten.

Agentur
sda
20.09.20 - 19:39 Uhr
Politik
Eine Frau steht bei einer Kundgebung der Opposition, um gegen die offiziellen Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen zu protestieren, vor Polizisten mit Schilden. Foto: Uncredited/AP/dpa
Eine Frau steht bei einer Kundgebung der Opposition, um gegen die offiziellen Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen zu protestieren, vor Polizisten mit Schilden. Foto: Uncredited/AP/dpa
Keystone/AP/Uncredited

Der 66-jährige Lukaschenko hatte gefordert, härter gegen seine Kritiker vorzugehen. Allein beim Frauenprotest am Samstag gab es die Rekordzahl von mehr als 400 Festnahmen bei dieser regelmässigen Aktion. Der Politologe Waleri Karbelewitsch meinte, dass die Polizeigewalt gegen friedliche Demonstrantinnen und das «Anziehen der Daumenschrauben» allgemein die Ängste in der Gesellschaft verstärken sollten. Dass nun weniger Menschen kamen, könnte demnach Folge dieses Kurses sein.

Seit der Präsidentenwahl am 9. August kommt es in Belarus täglich zu Protesten. Lukaschenko hatte sich mit 80,1 Prozent der Stimmen nach 26 Jahren im Amt zum Wahlsieger erklären lassen. Die Opposition hält dagegen Swetlana Tichanowskaja für die wahre Siegerin.

Am Palast der Republik standen am Sonntag mit Sturmgewehren bewaffnete Soldaten in Kampfuniform, wie ein Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur vor Ort berichtete. Der Platz vor dem Palast war wie der Unabhängigkeitsplatz mit Metallgittern umstellt. Auch in Seitenstrassen des Prospekts der Unabhängigkeit bezogen Truppen der Miliz, wie die Polizei in Belarus heisst, und des Militärs Stellung. Auf dem Prospekt bewegte sich eine Kolonne starker Kräfte mit Panzertechnik. Das stärkste Aufgebot an Einsatzkräften gab es wie an den vorherigen Sonntagen am Präsidentenpalast.

Machthaber Lukaschenko hatte sich dort zuletzt auch zweimal mit einer Kalaschnikow gezeigt, um eine Erstürmung des Palastes zu verhindern. Die Proteste sind stets friedlich. Die Behörden sperrten am Sonntag Metrostationen in der Innenstadt, um so den Zustrom von Menschen zu verhindern. Auch das mobile Internet funktionierte nicht. Die Menschen strömten zu Fuss aus verschiedenen Richtungen ins Zentrum.

Auch in anderen Städten kam es zu Protesten, darunter in Brest, Grodno, Gomel, Witebsk und Chodino. In Brest zündete die Polizei eine Leuchtpatrone zur Warnung. Auf Fotos und Videos im Nachrichtenkanal Telegram, über den die Proteste organisiert werden, waren brutale Festnahmen schutzloser Bürger zu sehen.

«Es lohnt sich, um die Freiheit zu kämpfen. Habt keine Angst, frei zu sein!», liess die inhaftierte Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa mitteilen. Die 38-Jährige hatte die Proteste gegen Lukaschenko mit angeführt, bevor sie vor zwei Wochen entführt worden war und dann in Haft kam. Sie meinte, dass sie nichts bereue.

Die Oppositionelle Tichanowskaja hatte die Sicherheitskräfte mehrfach aufgefordert, keine verbrecherischen Befehle mehr gegen friedliche Demonstranten auszuführen. Sie kündigte auch eine «schwarze Liste» mit den Namen der maskierten Uniformierten an. Das Portal Nexta Live, das rund zwei Millionen Abonnenten hat, veröffentlichte die Liste bei Telegram. Zu lesen waren dort die Namen, Geburtsdaten und die Wohnorte von etwa 1000 Angehörigen der Sicherheitsorgane. Die Hackergruppe mit dem Namen Cyber-Partisanen hatte die Liste erstellt. Das Innenministerium in Minsk teilte mit, die Verantwortlichen für das Datenleck würden gefunden und bestraft.

Die Sicherheitskräfte sind auf den Strassen mit Sturmhauben und Uniformen ohne Erkennungszeichen im Einsatz. Menschenrechtler kritisieren dies als Verstoss gegen belarussische und internationale Regeln. Die Sicherheitskräfte sollen sich so vor strafrechtlicher Verfolgung sicher fühlen. Die belarussische Opposition kündigte an, dass jene gefunden würden, die für die Todesfälle, die Hunderten Verletzten und Tausenden Festnahmen verantwortlich seien.

Die Aussenministerien von Belarus und seinem verbündeten Nachbarn Russland riefen derweil die Europäische Union auf, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. Besonders warnten sie davor, Sanktionen gegen Lukaschenkos Machtapparat zu erlassen. Die EU-Aussenminister wollen an diesem Montag in Brüssel über die Strafmassnahmen beraten. Auch Tichanowskaja wird in der belgischen Stadt erwartet. Sie soll bei einem Frühstück mit Chefdiplomaten aus den EU-Staaten über die Lage in ihrem Land aus erster Hand informieren.

Tichanowskaja hatte am Samstag in ihrem unfreiwilligen Exil in der EU zunehmende Repressionen in ihrer Heimat beklagt. Sie warf dem «Regime» Lukaschenkos einen neuen Tiefpunkt vor, weil es nun Kinder instrumentalisiere. Die Behörden hatten den sechsjährigen Sohn der Minsker Aktivistin Jelena Lasartschik am Freitag in ein Heim gesteckt. Hunderte Menschen forderten am Samstag vor der Einrichtung, den Eltern ihren Sohn zurückzugeben. Lasartschik verliess mit dem Kind am Vormittag das Heim – unter «Hurra»-Rufen und Applaus der Menge.

Schockiert reagierte der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki. Wieder nutze die Führung des Landes Kinder als «politische Geiseln». Die Praxis ist bekannt aus kommunistischen Zeiten der Sowjetunion, als versucht wurde, den politischen Willen von Frauen auf diese Weise zu brechen. «Diese Barbarei muss aufhören», schrieb er bei Twitter. Auch Tichanowskaja hatte im Wahlkampf berichtet, dass ihr gedroht worden sei, ihre Kinder zu verlieren. Sie hatte Sohn und Tochter daraufhin in das benachbarte EU-Nachbarland Litauen bringen lassen.

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