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Lokale Namen fallen dem Navi zum Opfer

Auch in Scuol sollen die Gebäudeadressen dem Schweizer Standard angepasst werden. Dagegen regt sich nun Widerstand.

01.12.19 - 04:30 Uhr
Politik

Das Schreiben der Firma Kindschi Ingenieure und Geometer AG wurde bereits im Oktober verschickt. Doch mit dem Titel «Amtliche Vermessung der Gemeinde Scuol» und dem Zusatz «Gebäudeadressierung Los 10 und Los 12» konnten wohl die wenigsten Grundeigentümer etwas anfangen. Dabei geht es um die Änderung der Strassennummern und sogar um veränderte Gebäudeadressen. «Die Gebäudeadressierung dient der Identifikation und dem Auffinden eines Gebäudes. Zudem erleichtert sie die Planungsarbeiten und verbessert, insbesondere in Notsituationen, eine zielgerichtete Routenwahl», heisst es im Brief. Oder kurz: Das Navi verliert die Orientierung.

Hans Andrea Veraguth ist Abteilungsleiter beim kantonalen Amt für Landwirtschaft und Geoinformation sowie Kantonsgeometer. «Die neue Gebäudeadressierung brauchen wir, damit wir ein eindeutiges amtliches Adressverzeichnis haben und alle die gleichen Adressen brauchen», erklärt er. Dies verlangen die amtlichen Richtlinien der Bundesverwaltung.

Einige Adressen verschwinden

Wie die neue Gebäudeadressierung in den sechs Fraktionen von Scuol aussehen soll, kann auf den Plänen nachgeschaut werden, die aktuell beim Bauamt Scuol öffentlich aufgelegt sind und für reges Interesse sorgen. Die öffentliche Mitwirkung dauert noch bis am 3. Dezember. Gemäss Robert Köhle sind bereits diverse Rekurse gegen die neuen Gebäudeadressierungen beim Bauamt eingegangen.

Köhle hat das Projekt gemeinsam mit der Vermessungskommission – bestehend aus je einem Gemeindevorstand pro Fraktion sowie weiteren Vertretern der sechs Dörfer – erarbeitet. «Bis jetzt waren die Hausnummern auf Gemeindegebiet von Scuol identisch mit den Nummern der Gebäudeversicherung», erklärt er. Neu werden die Häuser nach Strassenzug durchnummeriert.

Wohnte also jemand bisher in Bagnera 173, kann die Hausnummer künftig 27 lauten. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Strassenseite erhalten dann gerade Zahlen. Das neue System sieht auch Änderungen von Strassennamen vor und einige Adressen wird es künftig gar nicht mehr geben. Tuffera wurde beispielsweise zugunsten von Via da Crusch eliminiert.

Opposition in den Fraktionen

Mit solchen Änderungen sind einige Grundeigentümer nicht einverstanden. In einem Brief an die Vermessungskommission Scuol hält eine Gruppe von fünf Grundeigentümern aus Ftan fest: «Im Dorf gibt es grosse Opposition, vor allem gegen einzelne Namen, die keinerlei Bezug zu den lokalen Namen des Dorfes haben». Als Beispiele nennen sie Via Pitschna oder Via Stretta. «Lokale Namen, die während Jahrzehnten verwendet wurden, gehen verloren. Einzelne Quartiere sind nicht auf adäquate Weise berücksichtigt worden», heisst es im Schreiben weiter. Beispiele dafür sind Bügl Suot oder Pradatsch. Zudem sei die Nummerierung irreführend.

Laut der Gruppe haben mehrere Einwohner von Ftan die Grundeigentümer gebeten, Protest gegen die Anpassungen und Änderungen einzulegen. Dies haben die fünf Grundeigentümer gemacht, nicht aber ohne eigene Vorschläge einzureichen. Parallel dazu haben sie eine Unterschriftenliste verfasst. Wer unterzeichnet, zeigt sich mit den Vorschlägen der Gruppe einverstanden.

Grosse Verspätung in Graubünden

Einer, der die Änderungen und Reduktion der Strassennamen bedauert, ist der Historiker Paul Grimm aus Ftan. «Es ist zu befürchten, dass die alten Namen mit der Zeit verschwinden», meint er. Quartiere hätten sich meist um Brunnen und Plätze formiert, woher dann auch die Namen kommen. Andere Namen hätten einen kulturhistorischen Bezug oder sogar einen Zusammenhang mit alten Bräuchen. Solche Namen fallen nun der schweizweiten Vereinheitlichung zum Opfer. Laut Veraguth ist Graubünden einer der letzten Kantone und das Unterengadin eine der letzten Regionen, die das Projekt noch beenden müssen. «Eine Handvoll Gemeinden ist am Projekt noch dran», informiert er. Gestartet ist es im 2012, und es hätte Ende 2016 beendet werden sollen.

Woran liegt es, dass Graubünden dermassen Verspätung hat? «Es liegt an den Emotionen, es liegt aber auch daran, dass sich die Gemeinden nicht proaktiv darum bemüht haben», erklärt Veraguth. Nicht nur im Unterengadin, auch in anderen Regionen habe es Opposition gegen die neuen Gebäudeadressen gegeben. «In Regionen, die stärker besiedelt sind und wo man weniger stark an den einzelnen Flurnamen hängt, gab es weniger oder kaum Probleme», sagt Veraguth. In eher ländlichen Regionen habe es stärkere Opposition gegeben.

«Wo es geht, kommen wir den Wünschen der Bevölkerung entgegen. Was wir einfach nicht wollen, ist, dass eine Strasse innerhalb eines Strassenzugs verschiedene Male den Namen wechselt, denn so ist die Adresse kaum noch auffindbar», erläutert der Abteilungsleiter. Schliesslich sollen gerade in touristischen Regionen auch Ortsfremde und die Rettungskräfte ein Haus rasch finden können, nicht nur der Einheimische, der seit Generationen im Dorf wohnt.

Fadrina Hofmann ist als Redaktorin für die Region Südbünden verantwortlich. Sie berichtet über alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Themen, die in diesem dreisprachigen Gebiet relevant sind. Sie hat Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalismus und Rätoromanisch an der Universität Fribourg studiert und lebt in Scuol im Unterengadin. Mehr Infos

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