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Bollinger Adoptionsskandal: Kanton räumt Fehler ein

Alice Honegger aus Bollingen hat Hunderte von Kindern aus Sri Lanka in die Schweiz vermittelt – teils illegal. Die St. Galler Regierung zeigt sich selbstkritisch, auch wenn sie beim Kanton rechtlich keine Schuld sieht.

28.01.19 - 21:49 Uhr
Politik
Vermittelte Adoptivkinder aus Sri Lanka: Alice Honegger (1915–1997).
Vermittelte Adoptivkinder aus Sri Lanka: Alice Honegger (1915–1997).
SCREENSHOT SRF

Eine niederländische TV-Sendung rief im Herbst 2017 Geister aus der Vergangenheit wach: Recherchen zufolge wurden in den 1980er-Jahren rund 11 000 Kinder aus Sri Lanka teils illegal an europäische Adoptiveltern vermittelt – über 700 in die Schweiz. Fast alle Schweizer Adoptionen liefen über eine Frau aus Bollingen: über die 1997 verstorbene Alice Honegger, die während fast 50 Jahren für Kinder aus dem In- und Ausland neue Eltern suchte. Gestern hat die St. Galler Regierung den Untersuchungsbericht kommentiert, der bereits im Sommer 2018 an die Medien gelangt war.

Das Fazit der Regierung: Den Aufsichtsbehörden könne «im damaligen rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext kein rechtswidriges Verhalten vorgeworfen werden». Kritische Hinweise seien damals von den zuständigen kantonalen Stellen untersucht worden, doch hätten die Fakten aus juristischer Sicht nicht ausgereicht, um Honegger die Bewilligung zur Adoptionsvermittlung zu entziehen. Gleichwohl hält der Bericht als Fazit fest: «Insgesamt hat der Kanton die Aufsicht über die Adoptionsvermittlung von Alice Honegger ungenügend wahrgenommen.» Man habe bei ihr öfter ein Auge zugedrückt und nicht genau hingeschaut.

«Es geht um eine Aufarbeitung»

Wie der zuständige Regierungsrat Martin Klöti (FDP) betont, geht es der Regierung um eine Aufarbeitung des Themas und nicht um Schuldzuweisungen: «Damals waren die Rechtsgrundlagen und das ethische Verständnis anders», betont er. Heute seien die Hürden bei einer Adoption bedeutend höher. Dies sei insbesondere der UNO-Kinderrechtskonvention zu verdanken, welcher die Schweiz 1997 beigetreten ist. «Heute geben wir den ethischen und psychologischen Aspekten weitaus mehr Gewicht als in der Vergangenheit», erklärt Klöti.

Neu strukturiert hat der Kanton St. Gallen auf Anfang 2019 die vom Bund vorgeschriebene Anlaufstelle für Adoptierte, die ihre Herkunft und die Umstände ihrer Geburt nicht kennen. Diese ist im Kanton St. Gallen jetzt beim Amt für Soziales angesiedelt und nicht mehr beim Amt für Bürgerrecht und Zivilstand, das die Adoptionen rechtlich vollzieht. «Wir wollen die Betroffenen bestmöglich darin unterstützen, ihre Geschichte aufzuarbeiten», sagt Klöti.

Eine lückenlose Aufklärung ihrer Herkunft verlangt die 37-jährige St. Gallerin Tamara Kramer, die nur wenige Tage nach ihrer Geburt von Alice Honegger aus Sri Lanka in die Schweiz vermittelt worden ist. Sie weiss nicht einmal, ob ihr offizielles Geburtsdatum stimmt.

 

Adoptionen aus Sri Lanka: Ein dunkles Kapitel

Rund 11 000 Kinder aus Sri Lanka wurden in den 1980er-Jahren von Eltern aus Europa adoptiert – ein Teil davon illegal. Über 700 Kinder wurden in die Schweiz vermittelt, die meisten von Alice Honegger (1915–1997) aus Bollingen. Weil die Aufsicht über ihre Arbeit beim Kanton St. Gallen gelegen hatte, gab dieser Anfang 2018 bei der Historikerin Sabine Bitter eine Studie in Auftrag. Den Impuls gab eine niederländische TV-Sendung, die das Thema aufgriff. Bereits im Sommer 2018 gelangte der Bericht an die Medien. Gestern hat ihn die St. Galler Regierung im Internet veröffentlicht.

Wie aus dem Bericht hervorgeht, erfolgten zahlreiche Adoptionen gegen den Willen der Mütter und mit gefälschten Dokumenten. Teils sollen Säuglinge aus Spitälern gestohlen worden sein, teil wurden Mütter genötigt, ihr Neugeborenes wegzugeben. In manchen Fällen wurde Frauen Geld versprochen, wenn sie ein Kind gebären und es zur Verfügung stellen würden. Damalige Medienberichte aus Sri Lanka sprachen von eigentlichen «Baby-Farmen». Damit diese Praktiken nicht aufflogen, wurden Frauen angeheuert, die sich unter Angabe einer falschen Identität als leibliche Mütter ausgaben.

Der St. Galler Untersuchungsbericht zeigt: Obschon in der Schweiz verlässliche Informationen vorlagen, wurden die umstrittenen Adoptionen nicht dauerhaft gestoppt. Vielmehr schoben sich die zuständigen eidgenössischen und kantonalen Ämter die Verantwortung für ihr Nichtstun gegenseitig zu.

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