×

Die Landsgemeinde ist kein Brauch

Am 6. Mai versammeln sich die Glarnerinnen und Glarner wieder an der Landsgemeinde. Fälschlicherweise wird gerne von einem Brauch gesprochen. Die Landsgemeinde ist aber weit mehr als eine fest gewordene Gewohnheit. Ein (Er-)Klärungsversuch.

Südostschweiz
04.05.18 - 04:30 Uhr
Politik
Die Landsgemeinde ist keine Gewohnheit, sondern ein politisches Organ.
Die Landsgemeinde ist keine Gewohnheit, sondern ein politisches Organ.
SASI SUBRAMANIAM

Eine tiefe Stimmbeteiligung zeugt in vielen europäischen Ländern von einem Misstrauen gegenüber der Politik. «Die da oben machen sowieso, was sie wollen», ist der Tenor verstimmter Bürger. Auch in der Schweiz.

In einer anderen (politischen) Welt wähnt man sich im Kanton Glarus, wo Massen interessierter Bürgerinnen und Bürger  jedes Jahr am ersten Sonntag im Mai die Chance nutzen, sich an der heimischen Politik zu beteiligen. Nirgends ist der demokratische Prozess so sichtbar wie an der Glarner Landsgemeinde. Ein Briefumschlag mit Stimmkuvert hat hier nichts verloren.

Die Glarner Landsgemeinde hat ihren Charme. Und wird deshalb fälschlicherweise als Brauchtum bezeichnet. Ein Ausdruck, welcher der Landsgemeinde nicht gerecht wird. Sie ist nicht einfach eine zur Tradition gewordene Gewohnheit. Sie ist das oberste Organ des Kantons. Zuständig für die Verfassungs- und Gesetzgebung, für die Festsetzung des Steuerfusses und wichtige Sachentscheide. Die Landsgemeinde ist bestens über die Geschäfte im Bild. Grundlage für die Durchführung ist das vom Parlament vorberatene Memorial, das jedem Haushalt mit dem Stimmrechtsausweis zugestellt wird.

Geschlossene Fragen kennt man im Glarnerland nicht. Und demnach auch nicht ein einfaches «Ja» oder «Nein» bei wichtigen Themen. Jeder Einzelne an der Versammlung kann Anträge auf Unterstützung, Abänderung, Ablehnung, Verschiebung oder Rückweisung stellen. Anonym ist hier keiner. Auch nicht jener, der das Rednerpult meidet. Spätestens bei der Stimmabgabe outet er sich als Gegner oder Befürworter einer Sache, in dem er seine Hand hebt oder eben nicht.

Weit weg von der heutigen Demokratie

Das «grösste Parlament der Welt», wie die Landsgemeinde gemeinhin genannt wird, hatte übrigens nicht immer eine Vorbildfunktion in Sachen direkte Demokratie inne. Wie der Politikwissenschafter Lukas Leuzinger in seinem Buch «Z Wort isch frii» schildert, waren Anfang des 19. Jahrhunderts von 23 000 Einwohnern des Kantons nur gerade 5000 stimmberechtigt. Nein, mit solch einem Brauch wollen die Glarnerinnen und Glarner nichts zu tun haben. Sie sind stolz auf ihre heutige Landsgemeinde, die nie zur fest gewordenen Gewohnheit werden soll.

Die Glarner Landsgemeinde - ein Erklärvideo:

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Politik MEHR