Die Angst vor der Überwachung
Versicherungen lachen sich ins Fäustchen. Detektivfirmen auch. Nichts zu lachen haben die Versicherten. Also wir alle. Es droht die Überwachung bis hinein ins Schlafzimmer.
Versicherungen lachen sich ins Fäustchen. Detektivfirmen auch. Nichts zu lachen haben die Versicherten. Also wir alle. Es droht die Überwachung bis hinein ins Schlafzimmer.

Das Gesetz zur Überwachung von Versicherten der Sozialversicherungen funktioniert so: Privatdetektive dürfen im Auftrag von Krankenkassen, AHV, IV, Unfallversicherungen und Suva mehr als Polizei und Geheimdienst, wenn diese einem Terrorverdacht nachgehen. Stände- und Nationalrat haben das Gesetz in der Frühjahrssession verabschiedet. «Im Eiltempo», sagen einige. «Im Tempo des gehetzten Affen», sagt der Churer SP-Präsident Andri Perl in seiner Kolumne in der «Südostschweiz» (Ausgabe vom Dienstag). Fakt ist: Gerade mal eine Woche brauchten beide Kammern, um dieses Gesetz im März durchzuwinken.
Privatdetektive dürfen in Zukunft Fotos von Versicherten schiessen. Auch mit Drohnen, von oben direkt auf den Balkon und ins Schlafzimmer. Sie dürfen Versicherte abhören. Sie dürfen Menschen, Autos und Velos per GPS orten. Mit Ausnahme von GPS-Sendern alles ohne richterliche Genehmigung. Die Überwachung auslösen kann jeder Versicherungsmitarbeiter. Dazu genügt ein «Verdacht». Das heisst: Findet der Nachbar, seine IV-beziehende Nachbarin sehe glücklicher aus, als es sich für eine IV-Bezügerin gehöre, kann er die Frau bei der Versicherung anschwärzen. Sie könnte ja eine Betrügerin sein.
Keine Rechtsgleichheit
Martina Tomaschett aus Chur ist IV-Bezügerin. Seit ihrem 17. Lebensjahr leidet sie an Multipler Sklerose. Mittlerweile ist Tomaschett 50 Jahre alt und kandidiert für die SP als Grossratsstellvertreterin. «Dieses neue Gesetz trifft mich und wahrscheinlich auch andere in einer ähnlichen Situation sehr», sagt sie. «Es ist einfach nicht menschenwürdig, wie die Politik mit uns Versicherten umgeht.»
Tomaschett fragt sich, wo bei diesem Gesetz die im Artikel 8 der Bundesverfassung garantierte Rechtsgleichheit bleibt. «Bei jedem Verbrecher oder Steuerbetrüger muss ein hinreichender Anfangsverdacht bestehen, damit ein Richter eine Videoüberwachung und GPS-Tracking überhaupt genehmigt.» Bei IV-Bezügern gehe das scheinbar einfacher.
Finanzen offenlegen
Tomaschett greift noch ein anderes Thema auf: Es sei ja nicht so, dass eine Versicherung zu Beginn der Krankheit Leistungen spreche, und dies dann bis ans Lebensende so bleibe. «Alle drei bis vier Jahre hat man Revisionen, jedes Mal muss man sehr viel von der Privatsphäre preisgeben. Die Finanzen müssen mit Belegen komplett offengelegt werden.» Trotz dieser intensiven Kontrollen gehe die Politik aber davon aus, dass es unglaublich viele Sozialversicherungsbetrüger gebe. Bei Tomaschett tauchen deshalb Fragen auf: «Machen die Versicherungsfirmen nicht schon bei der Bewilligung Fehler? Bekommen die falschen Leute Leistungen? Sind die Sachbearbeiter trotz umfangreicher Gutachten, Befragungen, Interviews vor Ort schlicht nicht in der Lage, die Fälle richtig zu beurteilen?»
Ein anderer wichtiger Punkt für Tomaschett sind die Fachärzte. Offensichtlich trauten die Versicherungen ihren eigenen Ärzten nicht mehr oder wie sonst soll man verstehen, dass deren Diagnosen nachträglich infrage gestellt werden? Die Überprüfung der Versicherten durch Detektive stelle ja die Kompetenz der Fachärzte völlig infrage.
Entwürdigende Fragen
Tomaschett lebt ihr Leben so gut, wie es ihr Gesundheitszustand eben erlaubt. «Aber glauben Sie mir, es ist nicht lustig, mit MS zu leben, und die Tatsache, dass man jederzeit mit einer Bespitzelung rechnen muss, macht es nicht einfacher.» Für sie ist aber klar: «Ich bin damit einverstanden, dass ich etwa alle vier Jahre einem Sachbearbeiter alles von mir preisgeben muss, so viel Kontrolle muss sein.» Aber mehr nicht, Fragen, ob man sich selber anziehen könne oder den Allerwertesten selber putzen könne, seien schon entwürdigend genug.
Eine Firma, die in Zukunft vielleicht Versicherte überprüfen muss, ist Sprecher Security in Bonaduz. Inhaber Othmar Sprecher sagt: «Selbstverständlich müssen wir uns an die Gesetze halten.» Man könne nicht einfach Wohnungen stürmen und sie verwanzen. «Das wäre eindeutig Hausfriedensbruch, so Sprecher. Seine Firma würde einen Auftrag zur Überprüfung eines Versicherten aber schon annehmen. «Die Versicherungen erfinden ja nicht einfach einen Fall, die haben schon stichhaltige Hinweise erhalten.» Und dann stellt Sprecher auch noch klar: Menschen wie Martina Tomaschett müssen keine Angst vor Überwachungen haben. «Es gibt sie aber, die Betrüger.»
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