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«Die Beschwerde hat beim Bundesgericht gute Chancen»

Er war einst selbst Teil einer gescheiterten Stimmrechtsbeschwerde gegen das Bündner Wahlsystem. Alt-Grossrat Vincent Augustin im Gespräch über Formfehler, den Majorz und die anstehenden Grossratswahlen.

24.02.18 - 04:30 Uhr
Politik
Majorz Grossratsmajorz
Alt-Grossrat Vincent Augustin ist sich ziemlich sicher, dass die Tage des Majorz gezählt sind.
YANIK BUERKLI

Am Donnerstag hat das Bündner Verwaltungsgericht die erneute Stimmrechtsbeschwerde gegen das Majorzwahlsystem im Kanton Graubünden abgewiesen. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass es für diese Angelegenheit gar nicht zuständig sei. «suedostschweiz.ch» hat sich mit alt-Grossrat Vincent Augustin über Formfehler, das Bündner Wahlsystem und das Ablaufdatum des Majorz unterhalten.

Herr Augustin, die Stimmrechtsbeschwerde gegen das Majorzwahlsystem ist beim Bündner Verwaltungsgericht erneut wegen eines Formfehlers abgeblitzt. Sie haben Erfahrung damit. Bei der ersten Beschwerde, die wegen verspäteter Eingabe zurückgewiesen wurde, hatten Sie mitgewirkt. Verstehen Sie den neuerlichen Negativ-Entscheid?

VINCENT AUGUSTIN: Was die Formalität betrifft, ja. Man kann das gemäss dem kantonalen Verwaltungsrechtsgesetz so handhaben. Professor Auer hätte dieses wohl zuerst konsultieren sollen. Dann hätte er gesehen, dass er als Anwalt hätte zugelassen sein müssen, um die Beschwerde einzureichen.

Und inhaltlich?

In der Sache selber ändert sich dadurch nichts. Das Verwaltungsgericht hat in seiner Erwägung darauf hingewiesen, dass es für diese Angelegenheit nicht zuständig sei – selbst wenn der eingetretene Formfehler nicht bestanden hätte. Eine Beschwerde wie diese kann nur direkt beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht werden. Das ist im Sinne der Beschwerdeführer bereits geschehen. Jetzt kann das Bundesgericht die Sache materiell behandeln. Und das ist, was man von Anfang an wollte.

Wie gross sind die Chancen der Beschwerde beim Bundesgericht?

In Anbetracht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist das Majorzwahlverfahren per se nicht verfassungswidrig. Entscheidend ist die Ausgestaltung des Majorzverfahrens in den Kantonen. Nehmen wir den Kanton Appenzell Ausserrhoden als Beispiel. Das Bundesgericht wies deren Beschwerde zwar ab, aber aufgrund der damaligen Erwägung hat die Bündner Beschwerde intakte Chancen gutgeheissen zu werden. Die Voraussetzungen sind anders.

«Wer nicht Teil einer Partei ist, hat – mit einigen wenigen Ausnahmen – praktisch keine Chance darauf, gewählt zu werden.»

Inwiefern anders?

In Appenzell Ausserrhoden hatte man zum einen ein gemischtes System mit zwei grösseren Wahlsprengeln, die nach dem Proporzverfahren wählten, während in den übrigen Wahlsprengeln die Majorzwahl galt. In den Appenzeller Wahlsprengeln waren aber die Bevölkerungszahlen innerhalb der Sprengel nicht derart divergierend, wie das im Kanton Graubünden beispielsweise zwischen den Wahlkreisen Plessur und Avers der Fall ist.

Gibt es auch Unterschiede im Wahlverhalten?

Ja, und das hat auch das Bundesverwaltungsgericht so erwägt. Es verwies darauf, dass im Kanton Appenzell Ausserrhoden traditionell nicht parteigebunden gewählt wird. Das ist in Graubünden völlig anders. Wer nicht Teil einer Partei ist, hat – mit einigen wenigen Ausnahmen – praktisch keine Chance darauf, gewählt zu werden. Über Jahrzehnte hinweg lassen sich diese Ausnahmen an einer Hand abzählen. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu Appenzell Ausserrhoden.

Wie stark gewichtet das Bundesgericht die Wahltradition bei seinen Erwägungen?

Sie macht sie stark von der Geschichte abhängig. Und in Graubünden hatten die ursprünglich 39 Wahlkreise weit über ihre Funktion als Wahlsprengel hinaus eine wichtige Bedeutung. Beispielsweise für die Administration oder die Kreisgerichte. Seit der Gebietsreform jedoch haben diese Kreise überhaupt keine Bedeutung mehr. Sie dienen jetzt nur noch als Wahlsprengel für die Grossratswahlen.

So lässt sich mit der Geschichte nicht mehr argumentieren...

Genau! Die neuen Regioneneinteilungen, die der Kanton beschlossen hat, machen den Standpunkt der Tradition nichtig.

«Seit der Gebietsreform haben diese Kreise überhaupt keine Bedeutung mehr.»

Könnten Sie sich denn als Befürworter des Proporzsystems eine gemischte Variante wie in Appenzell Ausserrhoden vorstellen, um der einstigen Tradition doch noch ein wenig Rechnung zu tragen?

Das wurde bereits versucht, das Stimmvolk hat dies allerdings abgelehnt. Ich erachte das – nicht einmal rechtlich, sondern bereits politisch – als falsch. Denn gerade die Einer- und Zweierwahlkreise hätten so abgesehen von ihrer Funktion als Wahlsprengel überhaupt keine Bedeutung. Daraus resultierte ausserdem nur, dass gewisse parteipolitische Konstellationen zementiert würden. Und das, glaube ich, kann nicht im Interesse Graubündens sein.

Und trotzdem: Der Majorz widerspricht ja nicht der Verfassung...

Es geht auch gar nicht um entweder oder. Das Bundesgericht wird sicherlich zu verstehen geben, dass der Majorz – richtig organisiert – weiterhin verfassungsrechtlich zulässig ist. Um in Graubünden aber beim Majorz zu bleiben, müsste die Wahlkreisgeometrie erneut angepasst werden. Das wäre zumindest denkbar, aber sicher nicht einfach. Man müsste wohl beispielsweise den Wahlkreis Plessur zweiteilen. Dann hätte man pro jeweiligem Kreis rund zehn Abgeordnete im Kantonsparlament. Und die restlichen Kreise liessen sich so organisieren, dass auf einen Wahlkreis immer jeweils zwischen acht und zwölf Grossräte entfielen.

Nur würde das geografisch – gerade im Fall des Wahlkreises Plessur, den Sie erwähnt haben – keinen Sinn machen...

Geografisch wäre das sicher eine Herausforderung. Unter dem Aspekt, dass mit der neuen Regioneneinteilung bereits eine gewisse Konzentration stattgefunden hat, wäre es trotz der schwierigen Umstände aber zumindest denkbar.

«Um in Graubünden beim Majorz zu bleiben, müsste die Wahlkreisgeometrie erneut angepasst werden.»

Wie lange wählt Graubünden noch nach dem Majorzwahlsystem?

(lacht) Sicher noch für die kommende Wahl im Sommer. Selbst wenn das Bundesverwaltungsgericht bis dahin sein Votum abgäbe, hätte dies dennoch bloss Appell-Charakter. Das Bundesgericht kann die zuständigen Behörden nur dazu aufrufen, das System im Sinne der bundesgerichtlichen Überlegungen zu korrigieren. In eine laufende Wahl greift dies keinesfalls ein. Ich wäre aber nicht überrascht, wenn wir unsere Grossräte kommenden Juni zum letzten Mal nach dem Majorzwahlsystem ins Kantonsparlament berufen. 

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1)
SO 23.2.2018 Redaktor Reto Furger nennt es "stümperhaft", dass die Majorzgegner - früher wegen Fristverpassung, jetzt wegen anderer formeller Mängel - mit ihrer Beschwerde vor dem Bündner Verwaltungsgericht abblitzten.
2)
SO 23.2.2018 Titelseite: "Das Graubündner Verwaltungsgericht wäre aber auch auf eine formal korrekte Beschwerde nicht eingetreten. (...) Aufgrund der Gewaltentrennung dürfe es gar nicht überprüfen, ob die Kantonsverfassung rechtmässig sei (...)."
Liebe Leute, ich hätte da mal eine Frage:
Seit wie vielen Jahren läuft dieses Majorzzirkuskarussell bereits vor diesem Gericht? Mehr als vier JAHRE? Und jetzt erklären diese Richter, sie seien für diese Fragestellung eh gar nicht zuständig?
Wie ist das möglich und wer sind denn da die Stup...enden Fachidio...me?
Wenn ein Kunde in einer Bäckerei einen Schreibblock, fünf Kugelschreiber und einen Aktenordner verlangt, dürfte es eher unter vier SEKUNDEN dauern, bis man ihm sagt: "Dafür sind wir nicht zuständig."

Ich finde das GR-Verwaltungsgericht (wie auch GRF) praxis(dienstleistungs)fern.

SO 24.2.2018:

"VINCENT AUGUSTIN: Was die Formalität betrifft, ja. Man kann das gemäss dem kantonalen Verwaltungsrechtsgesetz so handhaben. Professor Auer hätte dieses wohl zuerst konsultieren sollen. Dann hätte er gesehen, dass er als Anwalt hätte zugelassen sein müssen, um die Beschwerde einzureichen."

SO 23.2.2018 Interview mit SP-GR-Präsident Philipp Wilhelm:

"Ist Ihre Beschwerde damit vom Tisch?

Überhaupt nicht. Das Verwaltungsgericht ist zwar nicht auf unsere Beschwerde eingetreten, mit der Begründung, dass der Beschwerdeführer, Staatsrechtler Andreas Auer, über kein Anwaltspatent verfüge.

Ein formaler Fehler also.

Ja. Allerdings haben die Beschwerdeführenden erklärt, dass sie die Beschwerde im eigenen Namen führen, falls Professor Auer nicht dafür befugt sei. Darauf ist das Verwaltungsgericht aber nicht eingetreten. Das ist unverständlich. Allerdings ist das mit dem vorliegenden Urteil nicht mehr relevant, weil das Verwaltungsgericht erklärt, dass es nicht für die Behandlung der Beschwerde zuständig sei."

...

Siehe Kommentar:

https://www.suedostschweiz.ch/tourismus/2018-02-28/das-kapitel-fotograf…

 

 

 

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