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So tickten Cassis’ Tessiner Vorgänger

Als achter Tessiner ist Ignazio Cassis heute in den Bundesrat gewählt worden. Wer erinnert sich noch an seine sieben Vorgänger? Wir werfen einen Blick zurück: vom Euroturbo der Neunzigerjahre bis zum Abgewählten vor 163 Jahren.

20.09.17 - 09:20 Uhr
Politik

Der Euroturbo

Flavio Cotti (CVP, 1986-1999): Als einer von wenigen Parteipräsidenten schafft der Jurist den Sprung in den Bundesrat: Erst amtiert er als Innenminister, doch erst im Aussendepartement wird der machtbewusste Tessiner glücklich. Einer kapitalen Fehleinschätzung unterliegt er, als die Regierung unter seiner Führung kurz vor der Abstimmung über einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum in Brüssel ein EU-Beitrittsgesuch einreicht – und so den EWR-Gegnern willkommene Munition liefert. Cotti erlebt an der Urne seine bitterste Niederlage. Noch bei seinem Rücktritt sieben Jahre später sagt er: «EU-Beitritt? Ich habe immer gesagt: je früher, desto besser.»

 

Der Beliebte

Nello Celio (FDP, 1966-1973): Der Anwalt profitiert bei seiner Wahl von Streit im welschen Lager: Während die Waadtländer FDP Anspruch auf einen Sitz erhebt, lancieren die Kantonalparteien Wallis und Freiburg einen anderen Kandidaten – Celio avanciert zum lachenden Dritten. Der «Mann der Wirtschaft», der bis zu seiner Wahl sage und schreibe 67 Verwaltungsratsmandate ausübte, erweist sich sowohl als Militär- als auch als Finanzminister als Brückenbauer nach links. In der Bevölkerung ist er derart beliebt, dass er nach seiner Rücktrittsankündigung mittels Petition gebeten wird, noch ein Jahr anzuhängen. Innert kurzer Zeit stapeln sich im Bundeshaus 22’000 Postkarten – Celio biegt sich dem Volkswillen.

 

Der Profiteur

Giuseppe Lepori (CVP, 1954-1959): Der Rechtsanwalt und Journalist wird gewählt, weil die Katholisch-Konservativen und die Sozialdemokraten ein Päckchen schnüren. Dank der Stimmen der linken Opposition erhält die spätere CVP auf Kosten der FDP einen dritten Sitz, den sie einer geheimen Absprache gemäss später der SP zuhalten soll – was 1959 mit der Einführung der «Zauberformel» auch gelingt. Lepori steht dem Post- und Eisenbahndepartement vor und hat sich vor allem mit dem neuen Medium Fernsehen zu beschäftigen. Wegen eines Schlaganfalls tritt er nicht zur Wiederwahl an und verlässt die Regierung, noch bevor er erstmals Bundespräsident wird.

 

Der Unauffällige

Enrico Celio (CVP, 1940-1950): Der in Bundesbern weitgehend unbekannte Tessiner Regierungsrat, Sprachwissenschaftler und Jurist wird in die Regierung gewählt, weil es inmitten des Zweiten Weltkriegs nicht opportun erscheint, keine italienischsprachige Vertretung zu haben: Erst recht, weil man fürchtet, Italiens Diktator Benito Mussolini könnte das Tessin und die Bündner Südtäler annektieren wollen. Celio steht dem Post- und Eisenbahndepartement vor und fördert die zivile Luftfahrt, ohne jedoch grosse Stricke zu zerreissen. Nach seinem Rücktritt wird er Schweizer Gesandter in Rom, bevor er sich endgültig ins Privatleben zurückzieht.

 

Der Italophile

Giuseppe Motta (CVP, 1911-1940): Der Rechtsanwalt beendet eine mehr als vier Jahrzehnte währende Durststrecke des Tessins, während der die Spannungen zwischen Bund und Südkanton spürbar angestiegen sind. Mit der Wahl des zehnfachen Vaters zählt der Bundesrat erstmals drei Vertreter der lateinischen Minderheit – wie heute mit Guy Parmelin, Alain Berset und Ignazio Cassis. Aussenminister Motta engagiert sich für den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund. Nach anfänglichem Idealismus schwenkt er bald auf Realismus und Pragmatismus um: In den Beziehungen zum faschistischen Italien und zu Nazideutschland stellt er die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz in den Vordergrund. 1940 stirbt er nach gut 28-jähriger Regentschaft im Amt.

 

Der Visionär

Giovanni Battista Pioda (FDP, 1857-1864): Die Wahl des Juristen und Diplomaten ist derart unumstritten, dass sich die Tessiner Zeitungen lediglich auf die Bekanntgabe des Wahlresultats beschränken. Eher als die Innenpolitik liegen dem Visionär die internationalen Beziehungen. Nach seinem Rücktritt aus dem Bundesrat wird er als Sondergesandter an den Hofe Viktor Emmanuels nach Turin geschickt, später nach Florenz und Rom. Insbesondere setzt er sich für einen Gotthard-Eisenbahntunnel ein – in der Überzeugung, das «zwischen Zollschranken und Alpen eingeklammerte» Tessin könne nur auf neue Impulse hoffen, wenn eine wichtige Verkehrsachse hindurch gelegt werde.

 

Der Abgewählte

Stefano Franscini (FDP, 1848-1857): Der Lehrer und Statistiker wird in den ersten Bundesrat gewählt, in dem während der ersten 44 Jahren des modernen Bundesstaats nur Freisinnige sitzen. Franscini wird Innenminister, im stark föderalen Staat ein als eher unwichtig betrachtetes Amt. Er spielt eine wichtige Rolle bei der Gründung der ETH und führt die erste nationale Volkszählung durch. 1854 wird der im Tessin nicht sonderlich beliebte Magistrat aus dem Nationalrat abgewählt – was damals noch Voraussetzung für einen Sitz im Bundesrat ist. Franscini darf nur in der Regierung bleiben, weil Schaffhausen ihm einen seiner Nationalratssitze überlässt. Er stirbt drei Jahre später im Amt.

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