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Tropfsteinhöhlen, Tanz und Triumph

Unser neuer Kolumnist Luca Brunner lebt zurzeit in der grössten Stadt der USA. Von dort wird er fortan alle zwei Wochen über seine Erlebnisse berichten – heute über die Tücken der Subway.

Linth-Zeitung
04.12.18 - 06:14 Uhr
Menschen & Schicksale
Melancholie an der Haltestelle Chambers Street in New York.
Melancholie an der Haltestelle Chambers Street in New York.
LUCA BRUNNER

Es ist halb acht Uhr morgens im New Yorker Stadtteil Brooklyn und ich warte auf meinen verspäteten U-Bahn-Zug. Nach über einer halben Stunde Wartezeit werde ich erlöst und kann endlich einsteigen. Mittlerweile habe ich auch die letzten Krümel meines Frühstücks-Bagels mit Cream Cheese sowie meine morgendliche Ration News verdrückt. Kurze Zeit später beginne ich über Tropfsteinhöhlen, unterschiedliche Tanzstile und triumphale Momente meiner Mitreisenden nachzudenken. Doch schön der Reihe nach, warum genau sind diese Gedanken symbolisch für meine tägliche Pendler-Routine?

Pendlerstrecke oder Höhlenexkursion?

Das Bild der Tropfsteinhöhle kam mir, als ich jüngst in der Subway-Station Chambers Street in Manhattan stand und den Beton-Verputz wie Stalagmiten von der Decke herabhängen sah. Weil sich am gleichen Tag die Kapuze meines Mantels mit Wasser aus einer unbekannten Quelle im Zug füllte, war für mich die Metapher klar. Meine Pendelstrecke ähnelt irgendwie einer Exkursion in eine Tropfsteinhöhle. Nun gut, Tropfsteinhöhlen sind meines Erachtens sowieso ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ziehen sie viele Abenteuerlustige wegen ihrer verborgenen Schätze an, und die darin vorkommenden Formen und Farben sind faszinierend. Andererseits haftet ihnen des Öfteren auch ein seltsamer Gestank an und es braucht nicht selten sehr viel Zeit, um dem Labyrinth ihrer Gänge wieder zu entkommen. So verhält es sich auch mit der Subway. Eine regelrechte Achterbahn der Gefühle durchleben ich und Millionen anderer Passagiere täglich in der «Hauptschlagader» meiner neuen Heimat. Nicht selten frage ich mich etwa, woher eigentlich all die Gerüche kommen, welche sich in den Stationen und Zügen jeden Tag zu einem seltsamen Mix zusammenbrauen. Heute Morgen dauerte es zudem – wie manchmal bei Höhlenforschern – eine gefühlte Ewigkeit, bis ich nach meinem Ausflug in den Untergrund wieder das Tageslicht erblicken durfte. Nichtsdestotrotz habe ich meine Liebe für New York und die Subway jeweils schnell wiederentdeckt, etwa, wenn ich meinem Arbeitskollegen demütig erkläre, wie sich New York als «Hauptstadt der Welt» immer wieder entlang einer der 26 Subway-Linien und der 1355 Kilometer Geleise entwickelt hat.

Flamenco tanzend in den Tag starten

Zu guter Letzt, was hat es mit den Tanzstilen auf sich, an die ich frühmorgens gedacht habe? Nun, letzte Woche wurde ich Zeuge eines «Subway-Flamenco». Als die Züge der teils wirklich maroden Subway wieder mal stillstanden, fasste sich ein lateinamerikanisches Paar ein Herz. Eine passende Playlist auf Spotify war schnell gefunden und los ging es. Mit dem Panorama der Williamsburg Bridge und dem Sonnenuntergang im Hintergrund wurde die Welt sofort eine Spur freundlicher. Des Weiteren, warum habe ich eingangs von Triumphen gesprochen? Neben unzähligen Dramen wird man auch regelmässig Zeuge von feierlichen Momenten in der Subway. Kürzlich verkündigte eine Dame neben mir mit Freudentränen: «I just got my dream job!», worauf unzählige Leute zu klatschen begannen. Ich konnte ebenfalls nicht widerstehen und machte mit. Auch wenn der «American Dream» für die meisten Seelen in dieser Stadt wohl nur ein Luftschloss bleibt, in diesem Fall ging er in Erfüllung. In diesem Sinne, die New Yorker Subway ist zwar nicht so verlässlich wie die gute alte S7, jedoch hält sie immer wieder positive und negative Überraschungen bereit. Eine richtige Hassliebe eben.

Kontaktieren Sie unseren Autor zum Thema: redaktion@linthzeitung.ch

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