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Zeitgefühl

Bei einem Spaziergang denkt Pesche Lebrument über die Zeit nach – darüber, wie schnell sie vergeht, und wie unterschiedlich schnell sich das anfühlt.

Linth-Zeitung
30.11.18 - 20:51 Uhr
Menschen & Schicksale
Pesche Lebrument
Pesche Lebrument
BILD ARCHIV

Von Pesche Lebrument

Der Herbst zerrt zuerst an den schwachen Blättern. Ein Laubteppich bedeckt den Spazierweg. Lautes Rascheln, warum hetze ich denn so? Ich muss ja nirgends hin.

Die Kälte beugt die Menschen. Zwei Spaziergängerinnen laufen langsam auf mich zu. Erst jetzt sehe ich ihre Gesichter. Diese Ähnlichkeit, ich tippe auf Mutter und Tochter. Schöner Schmetterling neben verblühtem Falter. Wenn ich in Gesichter sehe, stelle ich sie mir oft im Alter vor. Selten habe ich wie hier den Direktvergleich.

Wie eine Feuerwalze verschlingt Herbstrot das letzte Grün der Wälder. Rundherum Ruhe. Ich, alleine mit mir selbst. Als Knirps fragte ich meine Mutter, wie lange es dauerte, so alt zu werden wie sie. Sie beugte sich hinab, blickte mich schelmisch an und schnippte mit zwei Fingern.

Vor wenigen Tagen feierte ich Geburtstag. Es braucht wohl einen Tag der Erinnerung, die Geburt ist aus dem Gedächtnis gelöscht. Im Krankenhaus wurde ich frisch gepresst, trotzdem war ich völlig verschrumpelt. Fast keine Haare, ich sah es selbst auf Babyfotos.

Bei jedem Geburtatg bin ich ein anderer

Geburtstage messen die Distanz zur Geburt. Bei jedem Geburtstag bin ich ein anderer: Säugling, Schüler, Student, Soldat. Dieses Mal feierte ich als mittelalterlicher Herr. Die Zeit hat mir Haare geraubt, dafür Gewicht geschenkt. Erwachsen werden ist ein Kinderspiel. Ich erinnere mich genau: Ich war noch nicht volljährig als mich ein Kind erstmals siezte, ich sah ihm verwundert hinterher.

Zeit fühlt sich verschieden an. Jugendjahre schleichen unerträglich langsam, ständig Schule, unerreichbar schien der Führerschein. Wie Jahre fühlen sich auch Tage verschieden an. Montag ist anders als Sonntag, selbst wenn ich am Montag nicht arbeiten muss.

Mein Geburtstag fühlte sich fabelhaft an. Ich schenkte mir einen Tag mit Menschen, die ich mag. Der Geburtstag ist bereits Geschichte, Erinnerung, gespeichertes Gefühl.

Von hier aus kann ich erste Häuser sehen. Aus den Schornsteinen tritt Rauch aus gut geheizten Stuben. Ein Jogger in enger Hose hechelt vorbei. Ich bleibe stehen. Hat er eben nicht zurück gegrüsst, weil er völlig ausser Atem ist?

Er dampfte förmlich aus dem Mund. Leben im Laufschritt, es ist wie ein gemeinsamer Marathon, immer schnell der Zeit entlang, immer wieder fällt einer aus dem Rennen.

Ich bin schon eine gefühlte Stunde unterwegs. Ich schaue nicht auf die Uhr, bei dieser Kälte bleiben die Hände in den Manteltaschen. Ohnehin ist messbare Zeit ein Konstrukt, Zahlen zerteilen die Ewigkeit.

Der Herbst zerrt zuerst an den schwachen Blättern. Meine Schritte rascheln leise über Laub. Es zieht mich immer tiefer in den Wald. Hier drin verliert sich jedes Zeitgefühl.

«Mein Geburtstag fühlte sich fabelhaft an. Ich schenkte mir einen Tag mit Menschen, die ich mag.»

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