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Tempo, Tempo

Pesche Lebrument über Schnellfahrer, Lernfahrer, Kriecher – und jugendliche Selbstüberschätzung.

Südostschweiz
21.10.18 - 04:30 Uhr
Menschen & Schicksale
In Pesche Lebruments Kolumne Lebenszeichen geht es um nichts besonderes – einfach das Leben!
In Pesche Lebruments Kolumne Lebenszeichen geht es um nichts besonderes – einfach das Leben!

Er fährt direkt vor mir. Ein Fahrschüler. Und ich Trottel habe ihn auch noch aus der Nebenstrasse hineingewunken. Langsam, aber unsicher fährt er voraus. Angestrengt blicke ich auf das weisse «L» am blauen Heckaufkleber. Der Fahrschüler macht grosszügig von der Bremse Gebrauch. Am liebsten würde ich ihn mit meiner Stossstange anstossen. Doch als selbstunsicherer Fahrschüler schwor ich mir seinerzeit, nie andere Lernfahrer zu nötigen.

Das blaue «L» stottert durch die Strassen. Der Fahrschüler passiert das Lichtsignal so langsam, dass es während der Durchfahrt von Grün auf Rot stellt. Jetzt steh ich zuvorderst an der Ampel. Die Kontaktlinsen in meinen steil aufgerichteten Augen schmerzen. Ich glaube, mein Hals wird steif. Ich glaube, jetzt ist grün.

«Ich verlangsame. Gleich kommt die Radarfalle. Sie kauert hinter dem grossen Verkehrsschild. Ich mache eine Grimasse.»

Ab auf die Autobahn. Die Sonne wärmt durch die Scheiben. Ich bemerke im Spiegel, wie ein giftfarbenes Auto auf mich zustürmt. Dem aufgemotzten Kleinwagen ist anzusehen, dass ein junger Fahrer lenkt. Er wechselt zackig die Linien, drängt an mir vorbei. Direkt nach der Fahrschule wuchs auch bei mir das Selbstvertrauen ungleich schneller als die Fahrpraxis. Auf der Überholspur liess ich alle links liegen.

Noch manchmal schere ich aus, doch immer öfters reihe ich mich rechts in die Fahrgemeinschaft ein. Viel bleibt mir ohnehin nicht mehr zu tun. Das Auto hält sich selbstständig in der Spur. Es regelt Geschwindigkeit und Abstand zum Vordermann. Das Licht springt an bei Dunkelheit, die Scheibenwischer bei Regen. Die Navi-Stimme sagt, wos langgeht. Ich verkomme hier im Fahrzeug langsam zur Nebensache.

In wenigen Jahren sollen selbst fahrende Autos marktreif sein. Vor Kurzem hörte ich im Autoradio eine Sendung darüber. Anstatt zu lenken könnten die Fahrer an Videokonferenzen teilnehmen oder vom Rücksitz aus Arbeiten am Computer erledigen. Bisher war mir das Autofahren die kurze Pause vor der Arbeit.

Vor mir trödelt ein Cabrio, weisse Haare wehen im Wind. Ich ziehe am alten Paar vorbei. Sie kommen mir vor, als würden sie jetzt erst ihren Jugendtraum leben.

Das Alter passt das Tempo an. Mein greiser Nachbar hat vor Kurzem sein Billett abgegeben. Die Blechschäden häuften sich. Beinahe wöchentlich hatte sein Auto eine andere Form. Jetzt steht er auf der Strasse.

Ich verlangsame. Gleich kommt die Radarfalle. Sie kauert hinter dem grossen Verkehrsschild. Ich mache eine Grimasse. Manchmal zeige ich ihr auch den Mittelfinger. Schon seit Wochen steht sie hier.

Neben dem Geschwindigkeitsmesser fällt mein Blick auf die Kilometeran- zeige: 99 988 km habe ich alleine in diesem Auto bereits zurückgelegt. Das ist mehr als zweimal um die Welt. Wo war ich eigentlich überall? Ich erinnere mich an einige Reisen, doch meistens bin ich auf den immer gleichen Strecken unterwegs. Ich fahre in fallendem Tempo im Kreis durchs Leben.

Mit meinem fast vollen Tank könnte ich jetzt über 900 km weit fahren, wie mir die Benzinuhr verrät. Wo ich wohl landen würde, wenn ich jetzt einfach losfahre, bis mir das Benzin ausgeht?

Gleich da vorne kommt meine Strasse. Hier biege ich ab. Ich setze den Blinker und bleibe weiter in meiner Spur.

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