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Der Zwicker: Vergewaltigung und rote Lippen

«Linth-Zeitung»-Kolumnist Frédéric Zwicker stösst die Bildwahl des «Blick» bei Artikeln über eine ermordete Journalistin sauer auf.

Linth-Zeitung
09.10.18 - 10:30 Uhr
Leben & Freizeit
Buchautor, Musiker und Kolumnist Frédéric Zwicker nervt sich über die Bildwahl des «Blick».
Buchautor, Musiker und Kolumnist Frédéric Zwicker nervt sich über die Bildwahl des «Blick».
ZVG

Am Samstag hat man im bulgarischen Russe in einem Park am Donauufer die Leiche der Journalistin Wiktorija Marinowa gefunden. Ihr Mörder hat sie geschlagen, vergewaltigt und zuletzt erdrosselt. Mitarbeiter sind überzeugt, dass der Mord in Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand. Zuletzt befasste sich Marinowa mit dem Missbrauch von EU-Fördergeldern in Bulgarien, die offenbar zu 30 bis 40 Prozent über Beratungsfirmen und Firmenkonstrukte in Taschen von lokalen Politikern fliessen, anstatt in die Projekte, für die sie vorgesehen sind.
Marinowa ist die dritte Journalistin, die innerhalb eines Jahres in EU-Staaten ermordet wurde. Zuerst starb im Oktober letzten Jahres in Malta Daphne Caruana Galizia durch eine Autobombe. Diesen Februar wurden dann der slowakische Journalist Jan Kuciak und seine Verlobte erschossen. Galizia und Kuciak recherchierten und publizierten beide ebenfalls über Korruptionsfälle. Im Unterschied zu Marinowa waren sie aber keine hübschen jungen Frauen.
«Sex sells» in Marketing und Journalismus. Beispiel dafür ist das «Page three girl», das in der Schweiz oder in Deutschland «Seite-3-Girl» heisst. Erstmals erschien eine damals noch leicht bekleidete Dame 1969 in der britischen Boulevard-Zeitung «The Sun», nachdem Rupert Murdoch das kriselnde Blatt übernommen und Larry Lamb als Chefredaktor eingesetzt hatte. Am 17. November 1970 zeigte dieselbe Zeitung das erste Oben-ohne-Foto einer Unbekannten auf Seite drei. Die Bezeichnung «Page three girl» liess die «Sun» schützen.
Die Aufnahme der nackten Unbekannten ging Hand in Hand mit deutlich mehr Sex- und Klatschgeschichten. Auch politische und andere Meldungen wurden von nun an oft aus sexueller Perspektive beleuchtet. Es dauerte nicht lange, bis die Auflage in schwindelerregende Höhen schnellte. Heute ist die «Sun» mit zwei Millionen Exemplaren die auflagenstärkste englischsprachige Tageszeitung Europas.
Im Fall Marinowa verzichtete die NZZ in der Online-Ausgabe auf ein Bild. «Tages-Anzeiger» und «20 Minuten» zeigten eine ungeschminkte Marinowa im klassischen Kostüm mit Zöpfen und einer Brille. Andere Medien wählten aber wie der «Blick» das Bild, das eine deutlich schlankere Marinowa mit blond gefärbten Haaren und roten Lippen vor einem Poster zeigt, auf dem sich verführerisch ein Model räkelt.
Auf der «Blick»-Seite reiht sich das Aufmacherbild nahtlos in unzählige Bilder von hübschen Frauen ein. Die Zeitung hat zum Artikel auch eine Galerie mit Bildern der Ermordeten veröffentlicht, die eher Sex denn Investigativ-Journalismus suggerieren. Auch wenn mit dem Koppeln des Wortes Vergewaltigung und tendenziell erotischen Bildern der Journalistin kein Wecken perverser Fantasien beabsichtigt sein sollte, finde ich dieses Vorgehen äusserst unappetitlich.

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