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Der Zwicker: Zerstreute, vereinigt euch!

Kolumnist, Autor und Musiker Frédéric Zwicker aus Rapperswil-Jona über das teure Leben vergesslicher Menschen.

Linth-Zeitung
02.10.18 - 15:41 Uhr
Kultur
Autor und Musiker Frédéric Zwicker (links) schreibt in seiner wöchentlichen Kolumne über Dinge, die ihn bewegen.
Autor und Musiker Frédéric Zwicker (links) schreibt in seiner wöchentlichen Kolumne über Dinge, die ihn bewegen.
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Ein kleiner Überblick: Vor zwei Wochen nahm ich den Zug von Herisau nach Rapperswil, vergass in Uznach umzusteigen und erwachte in Ziegelbrücke. Zwei Stunden nachdem ich zu Hause war, musste ich nach Zürich, stieg in den falschen Zug, wartete in Uznach eine halbe Stunde, bevor ich wieder über Rapperswil nach Zürich fahren konnte.

Am Donnerstag vor einer Woche ging ich ins Appenzeller Refugium, um zu arbeiten. In Wattwil kaufte ich ein und fand nach 15 Minuten im Laden eine Busse unter dem Scheibenwischer, weil ich die Blaue-Zone-Karten-Pflicht vergessen hatte. Im Appenzeller Bauernhaus angelangt, merkte ich, dass ich das Laptop-Ladekabel vergessen hatte. Ich musste anderntags nach St. Gallen, um ein neues zu kaufen. In der nächsten Woche ging ich noch einmal hoch, diesmal ohne Handy-Ladekabel. Ich fuhr am nächsten Morgen in denselben Laden, um es zu ersetzen. Im September habe ich mich zweimal aus meiner Wohnung ausgeschlossen, weil ich vergass, den Schlüssel mitzunehmen.

«Wer keinen Kopf hat, hat Beine», sagt der Volksmund. Abgesehen davon, dass es bestimmt auch zerstreute Menschen ohne Beine gibt, müsste das Sprichwort in unserer Gesellschaft um «Wer keinen Kopf hat, hat ein Portemonnaie» ergänzt werden. Denn Zerstreutheit geht ins Geld. Ich habe noch nie eine Rechnung absichtlich nicht bezahlt. Aber wegen einer gewissen kreativen Unordnung oder Auslandaufenthalten habe ich schon Mahngebühren im Wert einer Südseeinsel ausgeschüttet. Mit den Fünflibern, die ich bezahlt habe, weil ich mein Portemonnaie mit GA vergessen hatte, hätte ich mir die Segeljacht für die Reise zur Insel gekauft.

«Nachweislich zerstreute Menschen müssten einen pauschalen Steuerabzug erhalten.»

In der Schweiz haben die meisten Minderheiten ihre Lobbys. Es gibt Behinderten- und LGBT-Organisationen und Tierschutzvereine. Die Bauern haben das Parlament, die Rüstungsindustrie hat einen (abtretenden) Bundesrat. Seit Social Media laufen nun vier Strichlein den Lobbys den Rang ab. Man denke an #metoo oder #metwo, den Hashtag, unter welchem Leute mit Migrationshintergrund über ihre Erfahrungen mit Rassismus berichten.

Unsere Gesellschaft bestraft zerstreute Menschen gnadenlos mit Bussen für etwas, wofür sie nichts können. Denn was Hänschen nicht lernt, lernt Hans bekanntlich nimmermehr. Ich war zum Beispiel bei der Schulpsychologin und beim Kinesiologen. Genützt hat das aber alles nichts. Ich finde deshalb, nachweislich zerstreute Menschen müssten einen pauschalen Steuerabzug erhalten. Oder noch besser eine Zerstreutheitsrente ähnlich der IV.

Dazu müssten sich die Zerstreuten aber zuerst einmal organisieren. Jetzt liegt der Widerspruch in der Natur der Sache und auf der Hand: Wenn sich Zerstreute organisieren könnten, müssten sie sich nicht organisieren. Mir ist klar, dass mein Versuch wirkungslos verpuffen wird, auch weil ich weder Twitter noch Instagram oder Ähnliches nutze. Trotzdem: #schwerebeineleeresportemonnaie!

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