Zur Schuldfähigkeit von Kindern im Strassenverkehr
Im Artikel «Warum es in Graubünden so oft kracht» werden einige Zahlen und Entwicklungen in der Verkehrsunfallstatistik des Kantons genannt und kommentiert. Unter anderen: 35 Kinder sind 2024 bei Verkehrsunfällen verletzt worden, vier davon schwer.
Die Autorin stellt daraufhin die Frage, ob Kinder immer unschuldig seien an diesen Unfällen. «Nicht unbedingt», antwortet sie gleich selber. Was ist das nur für eine Frage? Natürlich gibt es ohne Kinder im Strassenverkehr keine Unfälle mit Kindern im Strassenverkehr. Aber deswegen Kindern eine Schuld an Verkehrsunfällen zuzuweisen, ist nichts anderes als victim blaming: Opferbeschuldigung. Kinder können durch ihr Verhalten im Strassenverkehr Unfälle verursachen, das steht ausser Frage. Aber in diesem Zusammenhang von Schuld zu sprechen, ist Augenwischerei. Die sensorischen Fähigkeiten des Menschen sind erst mit etwa 14 Jahren so weit ausgebildet, dass er bewegliche Objekte im schnellen und komplexen Strassenverkehr vollständig und schnell genug erfassen und in die Zukunft projizieren kann. Kinder haben also gar nicht die Möglichkeit, die vollständige Verantwortung für ihr Handeln im Verkehr zu übernehmen.
Was können Kinder dafür, dass unsere Gesellschaft seit den Nachkriegsjahren den Individualverkehr mit aller Konsequenz und bewusst vollständig auf das Auto ausrichtet? Wir haben den Siedlungsraum umfassend dem Autoverkehr gewidmet und akzeptieren stillschweigend die Folgen: Verkehrsunfälle, Lärm, Platzmangel, Luftverschmutzung, Kosten. Um Kinder im Strassenverkehr zu schützen, braucht es die volle Aufmerksamkeit der erwachsenen Verkehrsteilnehmenden und eine Organisation des Verkehrs, welche dem erhöhten Schutzbedürfnis der Zufussgehenden – insbesondere der Kinder – und des Veloverkehrs Rechnung trägt. Das heisst zuallererst: fehlerverzeihende Infrastruktur. Davon sind wir in den meisten Städten und Dörfern der Schweiz weit entfernt. Wer vor diesem Hintergrund Kindern «Schuld» an Verkehrsunfällen zuweist, ist mehr als zynisch und verkennt, wie unfair die Prioritätensetzung bei der Planung des Individualverkehrs in unseren Siedlungsräumen heute ist.
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Sehr gut und schlüssig…
Sehr gut und schlüssig erklärend geschrieben Herr Kleeb!