×

Sagenumwoben

Von Nixen, Hexen und zwei Frauen mit einem Faible für Geschichten

Bündner Woche
06.06.23 - 14:29 Uhr
Leben & Freizeit
«As Dorf in dr Stadt»: der Blick vom Haldensteiner Rosengarten zum Schloss.
«As Dorf in dr Stadt»: der Blick vom Haldensteiner Rosengarten zum Schloss.
Laura Kessler

Von Cindy Ziegler

Ein verwunschenes Schloss. Rosen in allen Farben ranken sich den alten Mauern hoch. Eine Nixe sitzt auf einer Empore im Brunnen. Im Hintergrund erheben sich die Berge und werfen zusammen mit der mächtigen Rotbuche Schatten auf den Rasen. Es ist Dienstagmorgen im Rosengarten des Schloss Haldenstein. Ein Ort, perfekt, um Geschichten zu erzählen. Das finden zumindest Annina Giovanoli und Caroline Capiaghi. Die eine Haldensteiner Kulturschaffende, die andere professionelle Erzählerin. Annina Giovanolis neuster Streich, das Projekt «As Dorf in dr Stadt», hat auch die auf der Lenzerheide aufgewachsene und nun Wahlbuchserin in das Dorf gelockt, das seit zwei Jahren politisch zu Chur gehört. Ziel des «ganzen halben Jahres», wie die Initiantin es nennt, sei es, Haldenstein ein Bild zu geben. Unter dem Motto «Vom Berg bis zur Brugg» finden ab dem 9. Juni bis zum 10. Dezember verschiedenste kulturelle Anlässe statt, die Haldenstein im Blick haben. So auch der sagenhafte Küchentisch, bei dem die Erzählerin im Zuhause der Haldensteinerin jahrhundertealte Geschichten erzählt.

So viel dazu. Und zurück zum sagenumwobenen Schloss mit dem verwunschenen Garten. Ein mystisches Fleckchen Erde, ein geschichtsträchtiger Ort. Sofort kommen die beiden Frauen ins Erzählen. Sie blicken gemeinsam vom Calanda hoch oben bis nach Chur tief unten. Vom Land in die Stadt. Von der Natur in den von Menschen belebten Raum. «Diese Lebensräume haben eine Diskrepanz in ihrem grundsätzlichen Sein, und doch verbindet beide das Mystische», erklärt Caroline Capiaghi. Schlösser und Burgen, alte Mauern, die von verborgenen Schätzen und verwunschenen Seelen erzählen. Und die raue Natur, die ihre eigenen Geschichten schreibt. Annina Giovanoli schaut auf das Schloss direkt vor sich und zur Burg Haldenstein links und zur Katzenburg rechts, hoch oben über den Häusern des Dorfs. «Früher hat man sich erzählt, dass es einen unterirdischen Gang gibt von den Burgen hinab ins Schloss. Bewiesen wurde das nie. Vielleicht hat man sich das aber insgeheim gewünscht.»

Geschichtenerzählerinnen: Annina Giovanoli… Bild Laura Kessler
Geschichtenerzählerinnen: Annina Giovanoli… Bild Laura Kessler
 …und Caroline Capiaghi sinnieren im Haldensteiner Schlossgarten über Sagen und Mythen. Bild Laura Kessler
…und Caroline Capiaghi sinnieren im Haldensteiner Schlossgarten über Sagen und Mythen. Bild Laura Kessler

Caroline Capiaghi nickt. «Gier, wie auch Fluch und Segen sind zentrale Motive in Alpensagen. Sie sind knapp und karg – genauso wie die Orte und Zeiten, denen sie entstammen», erklärt sie. Ihre wiederum ausführlichen Worte sind begleitet von ausladender Mimik und Gestik. Vollkommen in ihrem Element. «Sagen um Schlösser wie hier in Haldenstein sind eher jünger. Im Alpenraum und in Graubünden gibt es Sagen, die sind viel, viel älter. Beispielsweise das Sennentunschi. Angelehnt an Pygmalion aus der griechischen Mythologie. Oder diejenige von einem Hirten, der eine widerspenstige Kuh immer und immer wieder den Berg hochtragen muss. Angelehnt an Sisyphus.» Caroline Capiaghi lacht, während Annina Giovanoli ihr gebannt lauscht.

«Eine Sage will erklären, aufrütteln und erschüttern.»
Caroline Capiaghi

Auf dem Land – und insbesondere auf dem Berg – geht es in vielen Sagen um die Alpwirtschaft, um Frevel, um Klimaveränderungen, um Naturdämonen oder Jenseitsvorstellungen. So zum Beispiel um das Motiv einer Herrin oder eines Herrn der Tiere. Bei Sagen in der Stadt hingegen sei Macht ein häufiges Motiv. «Eine Sage will erklären, aufrütteln und erschüttern. Sie hat immer einen historischen Kern und einen engen Bezug zum Ort», erklärt Caroline Capiaghi. Anders als Märchen, die nicht an einen Ort gebunden seien. Oder Legenden, die einen religiösen Hintergrund hätten.

Wieder lassen wir den Blick schweifen. Hinter den historischen Schlossmauern und vor den dunklen Bergen sind Strommasten und die Autobahn zu erkennen. Die Moderne stört den Mythos. Oder doch nicht? «Viele Sagen haben Anknüpfungspunkte ans Heute. Die Themen sind universell und lösen sich nicht einfach auf. Sagen sind Bilder. Und Bilder haben die Kraft, etwas aufzuzeigen», sagt die Geschichtenerzählerin. Früher waren diese Erzählungen einerseits Unterhaltung. Andererseits dienten sie aber auch dazu, den Leuten Angst zu machen. «Vielleicht auch ein bisschen, um sie zu erziehen», meint Annina Giovanoli. Und heute? Heute würden sie animieren, wieder einmal zuzuhören. Sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Miteinander in den Austausch kommen.

Die ärgste Strafe

Die Sage «Die ärgste Strafe» findet sich hier einmal in einer kurzen, geschriebenen Version und eimal in einer ausgeschmückten Version von Caroline Capiaghi. Beide Versionen zeigen, wie sich Sagen und Geschichten über die Jahrhunderte verändern. 

Die Bauern von Tenna fingen mit vieler Mühe einen grossmächtigen Bären, der ihren Herden viel Schaden getan hatte. Die Gemeinde beschloss, ihn für seine Missetaten aufs härteste zu bestrafen, allen bösen Bären zum Exempel. Da trat ein wildes Mannli unter die Versammlung und sagte: «S grusigst ist, lent na hürota!»

Quelle: «Vo chlyne Lüte» von C. Englert-Faye

Ein sagenumwobener Garten…
Ein sagenumwobener Garten…
… alte Burgen…
… alte Burgen…
 … und ein Brunnen im Schlosshof, aus dem der Sage nach eine verwunschene Frau entstieg: Das Dorf Haldenstein gibt Raum für viele Geschichten.
… und ein Brunnen im Schlosshof, aus dem der Sage nach eine verwunschene Frau entstieg: Das Dorf Haldenstein gibt Raum für viele Geschichten.

Etwas, was im Dorf und in der Stadt zwar wohl gleichermassen ein Bedürfnis ist, aber anders gelebt wird. Wieder ein Blick zurück. «In der Stadt hat man sich weniger lang Sagen erzählt, weil man früh auch andere Arten von Unterhaltung kannte. Anders auf dem Land. Und sowieso in Haldenstein», meint Annina Giovanoli. Haldenstein sei ein Haufendorf – ein schützenswertes noch dazu. «Wie der Name schon sagt, sind wir fest beieinander. Eng miteinander. Und mir ist es wichtig, dass wir, auch wenn wir nun politisch zu Chur gehören, weiterhin als Dorf wahrgenommen werden.» Als Dorf mit eigener Geschichte und eigenen Geschichten. Und mit enger Gemeinschaft.

«Da sind wir wieder bei den Sagen», meint Caroline Capiaghi. «Eine Sage lebt vom Ort und vom Miteinander.» Jetzt ist es Annina Giovanoli, die zustimmend nickt. «Stimmt. Wir sind alle verbunden. Und das erlebt man, wenn man Geschichten erzählt.» Die beiden Frauen berichten von solchen Erlebnissen. Von einem Anlass im Scaläratobel, als Annina Giovanoli die Sage erzählte, wo mit Totenköpfen gekegelt wird, und es plötzlich aus dem Tobel rumpelte. Caroline Capiaghi erzählt von einem ähnlichen Erlebnis. «Synchronität nennt man das, wenn tatsächlich geschieht, was man erzählt. Wir kennen heute die realen Erklärungen dafür. Aber früher … da konnten es nur Geister, Hexen oder andere Sagengestalten sein», sagt Caroline Capiaghi und grinst breit.

Weitere Infos zum Projekt «As Dorf in dr Stadt» unter www.theater-haldenstein.chwww.erzaehlerin.ch.

Inhalt von buew logo
Kommentieren
Kommentar senden
Mehr zu Leben & Freizeit MEHR