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Eine Stadt im Wandel: Wie der Siedlungsdruck die Landwirtschaft in Chur veränderte

Wo einst Bauernhöfe standen: Der Churer Gaudenz Schmid dokumentiert die Entwicklung der Landwirtschaftsbetriebe in der Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg.

Bündner Woche
26.03.25 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Knapp die Hälfte ist geschafft: Gaudenz Schmid dokumentiert die Entwicklung der Landwirtschaft in Chur seit dem Zweiten Weltkrieg.
Knapp die Hälfte ist geschafft: Gaudenz Schmid dokumentiert die Entwicklung der Landwirtschaft in Chur seit dem Zweiten Weltkrieg.
Susanne Turra

von Susanne Turra

«Die jetzige Weltlage macht uns wieder vermehrt auf die eigene Versorgungssicherheit aufmerksam. Was, wenn wir wieder von der Zufuhr von ausländischen Lebensmitteln abgeschnitten werden wie in den beiden Weltkriegen?» Mit dieser Frage beschäftigt sich Gaudenz Schmid nicht erst seit heute. Und so hat er bereits vor zehn Jahren eine Idee. Warum nicht alle Landwirtschaftsbetriebe in Chur seit dem Zweiten Weltkrieg aufzeichnen und dokumentieren? Gesagt, getan. Gaudenz Schmid macht sich an die Arbeit. Der bald 90-Jährige ist ein Churer Urgestein. Seine Eltern haben damals in den Grossbruggerwiesen eine Landwirtschaft und Fuhrhalterei betrieben. Damit ist Gaudenz Schmid selber Teil der Geschichte. Heute sitzt er am Holztisch in der Stube seines Hauses an der Rheinstrasse in Chur. Es ist das alte Verwalterhaus des ehemaligen Gaswerks. Im Garten steht eine grosse Blautanne. Gaudenz Schmid blickt zurück und erzählt.

Ein Stück Churer Geschichte

«Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Chur immer noch rund 70 Bauernhöfe betrieben», sagt er gleich zu Beginn. «Von diesen Bauernfamilien habe ich die meisten persönlich gekannt.» Er habe 14 Jahre bei der Stadtpolizei gearbeitet. Dort habe er jeweils die Gelder für die Tierseuchenfonds bei den Bauern und Bäuerinnen einziehen müssen. Und so habe er eben gewusst, wer auf welchem Hof zu finden sei. Das ist ein Stück Churer Geschichte. Und das soll nicht in Vergessenheit geraten, findet Gaudenz Schmid. Er widmet sich den Betrieben, die Ende 50er-, anfangs 60er-Jahre politisch zu Chur gehört haben. «Das ist die Zeit, in der auf den Bauernhöfen nach und nach die Mechanisierung eingeführt wurde», weiss er. «Bis dahin haben die meisten noch Pferdebetriebe gehabt. Und dann sind die ersten Traktoren gekommen.» Für seine Recherche sucht Gaudenz Schmid die Adressen der damaligen Bauernhöfe raus und klopft bei den Nachkommen an. «Ich wollte hören, was die Leute noch darüber wissen», so der Churer. Und? Erstaunlich vieles. Etwas ist ihm dabei aufgefallen. «Die Bauern und Bäuerinnen nehmen Dinge wahr, welche die städtische Bevölkerung nicht mehr so wahrnimmt», bemerkt er. «Irgendwie haben sie ein besseres Geschichtsbewusstsein.» Vermutlich von Berufes wegen.

Die meisten Landwirtschaftsbetriebe waren in Masans: Auf dem Stadtplan von 1931 sind die Bauernhöfe rot eingezeichnet.
Die meisten Landwirtschaftsbetriebe waren in Masans: Auf dem Stadtplan von 1931 sind die Bauernhöfe rot eingezeichnet.
Susanne Turra

Gaudenz Schmid breitet einen grossen alten Stadtplan auf dem Tisch aus. «Der ist von 1931 und der beste, den ich gefunden habe», erzählt er. «Hier ist fast jeder Baum eingezeichnet.» Auf dem Plan sind haufenweise rote Punkte zu sehen. Das sind die Standorte der einstigen Bauernhöfe. Die meisten standen in Masans. Rund um den Rhein war ja früher alles Schwemmland. Dann hat man den Rhein zurückgedrängt, kanalisiert und urbanisiert. Und um 1820 sind Bauernhöfe dort unten entstanden. Auf dem alten Stadtplan ist es gut zu sehen: Unter der Bahnlinie ist zu jener Zeit noch alles landwirtschaftlich genutzt. In den 70er-Jahren kommt der Bau der Sportanlagen Obere Au. Und die Familie Schmid muss aus Grossbruggen weichen. «Wir waren die einzigen Privaten dort unten», erinnert sich Gaudenz Schmid. An seiner Geschichte ist zu erkennen, wie es den anderen Familien ergangen ist. Nach und nach mussten sie alle weichen. Wegen der Stadtausdehnung. 

Der Siedlungsdruck ist heute noch gross

«Der Siedlungsdruck ist heute noch sehr gross», weiss Gaudenz Schmid. Viele möchten Land umzonen und umnutzen. Viele möchten bauen. Übrigens haben die Churer Bauern und Bäuerinnen damals ihre Landwirtschaft oftmals nicht auf eigenem Boden betreiben können. Sie hatten Pachtboden von der Bürgergemeinde und dem Bistum. Diese besitzen bis heute am meisten Land in Chur. So oder so. 70 Landwirtschaftsbetriebe. Das ist eine stattliche Zahl. Klar. Einige davon waren auch Kleinbaubetriebe. Mit acht bis zehn Milchkühen, Schweinen, Schafen, Ziegen und Hennen. Gaudenz Schmid erinnert sich. «Da war beispielsweise der Konsumstall», sagt er. «Dort, wo heute die zwei Blöcke hinter dem Marsöl stehen.» Die Ställe in der Altstadt, wo in einigen noch Kleinvieh gehalten wurde, gab es bis ins 20. Jahrhundert. 

Aus dem Fotoalbum: Haus und Hof der Familie Schmid in den 50er-Jahren.
Aus dem Fotoalbum: Haus und Hof der Familie Schmid in den 50er-Jahren.
Susanne Turra
Im Hintergrund sind Teile des Calandabrandes zu sehen.
Im Hintergrund sind Teile des Calandabrandes zu sehen.
Susanne Turra

Und die einstigen Bauernhöfe? Gaudenz Schmid hat alle nummeriert und in Reviere eingeteilt. Die Akten sind in bunte Register gefächert und in graue Schachteln versorgt. So lässt sich die Dokumentation zu den Bauernhöfen schnell finden. Knapp die Hälfte hat er schon geschafft. Rund 40 Dossiers sind noch anzulegen. «Es gibt noch viel zu tun», sagt der Churer und schmunzelt. Er komme auch nur langsam vorwärts. Und er sei auch nicht jeden Tag daran. «Wenn ich Lust habe, mache ich wieder etwas», verrät er. Dazu hat er vor einiger Zeit sogar einen Kurs im Staatsarchiv besucht. Um alte Schriften richtig lesen zu können. Gaudenz Schmid blättert in den Akten – und findet eine Liste mit Hofnamen: Geissweid, Plankis, Trist, Schützengarten, Oberforal, Foral, Raschärengut, Schönbühl, Grünberg, St. Antönien, Bolettagut, Teigwarenfabrik, Felsenau, Schönbühl, Rheinhof, Rheingut, Westend, Daleuhof, Saluferhof, Windegg, Eulengut, Kantengut, Halbmill, Kälberweide, St. Hilarien, Unter Städeli, Ober Städeli. 

Landwirtschaft hin oder her. Gaudenz Schmid möchte auch über die Kriegszeit erzählen. «Die Zeit des Zweiten Weltkrieges habe ich wirklich noch erlebt», betont er. «Diese Rationierung und wie sich die Leute damals aufgeführt haben.» Seine Eltern haben Eier, Kartoffeln und Obst verkauft. Alte Apfelsorten wie Goldparmäne, Sauergrauech, Bohnapfel, Danziger Weinapfel, Berner Rosen, Gravensteiner. Und auch Birnen. Zum Beispiel die Birne Bergamotte, die Zuckerbirne und die Theilersbirne. «Ich kann mich noch sehr weit zurückerinnern», sagt Gaudenz Schmid. Und er erzählt weiter. Von der ersten Primarklasse, die er 1943 besucht hat. Von der Maikäfersammlung. Der Holunderernte. Dem Bauernball. Den Maiensässen. Und der Anbauschlacht. 

Wiesland wird zu Ackerland

Nach dem Plan von Friedrich Traugott Wahlen musste die Schweiz bezüglich Ernährung auf Vordermann gebracht werden. So musste Wiesland zu Ackerland umgebrochen werden. Korn angepflanzt und gedroschen werden. Und der Ertrag der Kriegswirtschaft gemeldet werden. Auch das Vieh wurde gezählt und gemeldet. Die Bauern und Bäuerinnen, die das gutgemacht haben, haben ein Diplom bekommen. Ein Ehrendiplom. Gaudenz Schmid hält dasjenige von seinem Schwiegervater in die Höhe. «In dankbarer Anerkennung der hervorragenden Leistungen zur Sicherung der Landesversorgung 1943» steht in grossen Lettern darauf geschrieben. 

Zeitgeschichte: Gaudenz Schmid als Bub mit seiner Geiss. Heute steht hier der Parkplatz des Hallenbades.
Zeitgeschichte: Gaudenz Schmid als Bub mit seiner Geiss. Heute steht hier der Parkplatz des Hallenbades.
Susanne Turra

«Über den Ersten Weltkrieg haben mir meine Eltern, Onkel und Tanten viel berichtet», so Gaudenz Schmid. Zum Beispiel, dass die Rationierung damals zu spät eingeführt wurde, was zur Folge hatte, dass drastische Sparmassnahmen bei der Zuteilung von Lebensmitteln eingeführt werden mussten. 

Erzählungen aus dem Ersten Weltkrieg

Und Gaudenz Schmid berichtet weiter aus ihren Erzählungen: «Mein Onkel, geboren 1902, befand sich während der Zeit des Ersten Weltkrieges in einer Malerlehre. Seine Mutter habe das Brot mit einer Schablone zugeschnitten, damit es für die ganze Familie zu gleichen Teilen verteilt werden konnte. Oft habe sie ihre Ration noch ihm überlassen. Auch konnte man in den 
Bäckereien Papiertüten, gefüllt mit Brotkrümeln kaufen, die vom Reinigen der Brotgestelle zusammengeschabt wurden. Frisches Brot und Weissbrot war kaum zu haben und in der Woche gab es mindestens drei fleischlose Tage. Eine Frau wurde gebüsst, weil sie das Fleisch vom Vortag aufgewärmt hatte. Eine Nachbarin hatte sie bei der Polizei verpfiffen.»

Eine «Zettaliwirtschaft»

Zurück zu den Bauernhöfen. Wer hat sich denn bis heute gehalten? «Es gibt noch rund zehn Bauernhöfe in der Stadt», sagt Gaudenz Schmid. Dabei dürfte sich aber der Viehbestand gegenüber früher kaum verändert haben. So. Genug geredet. Die Arbeit ruft. Es ist eine grosse Arbeit, die noch vor ihm liegt. Unterstützt wird er dabei von Ursula Trebs. «Meine Arbeit ist eine ‘Zettaliwirtschaft’», schliesst Gaudenz Schmid. Er lacht laut. Und legt seine handschriftlichen Akten feinsäuberlich zurück ins Dossier.

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