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Peter Peyer richtet sich am Eidgenössischen Bettag an die Bevölkerung

Der Blick zurück zeigt Wandel und Fortschritt. Mit diesen Worten richtet sich Regierungspräsident Peter Peyer an diesem Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag an die Bevölkerung.

Südostschweiz
17.09.23 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Eidgenössischer Bettag vom 17. September: Regierungspräsident Peter Peyer spricht zu der Bevölkerung.
Eidgenössischer Bettag vom 17. September: Regierungspräsident Peter Peyer spricht zu der Bevölkerung.
Bild Livia Mauerhofer

Vor 160 Jahren verfasste der damals als Zürcher Staatsschreiber amtierende Gottfried Keller folgende Einleitung zum Bettagsmandat: «Mitbürger! Wieder naht der vaterländische Bettag, an welchem alle Eidgenossen vor Gott, ihren alleinigen Herrn, treten, um ihre Gewissen vor ihm, dem Allwissenden, zu prüfen, die Gebote des Unendlichen zu vernehmen und ihm für seine unwandelbare Güte zu danken. Möge der Tag ernster Sammlung nach der heissen Arbeit des Sommers, wie nach dem Geräusche der nationalen Feste unserm gesamten Volke willkommen sein, als einem Volke, welches weder über der Arbeit noch über der Freude die Übung geistiger Wachsamkeit aus den Augen setzt.»

Welche Wege unser Geist in der Zeitspanne von fünf Generationen gegangen ist! Und welchen Wandel unsere Gesellschaft durchlebt hat! Kellers Sprache spricht davon Bände. Die Mitbürger sind heute Mitbürger und Mitbürgerinnen, je nach Schreibweise auch Mitbürger*innen. Mit eingerechnet sind dabei auch die gut zwanzig Prozent der Schweizer Bevölkerung, die gar keine Bürgerrechte haben, weil sie keinen Schweizer Pass besitzen. Das von Keller benutzte «vaterländisch» wird heute allenfalls noch als Synonym für «heimatlich» verstanden, ist aber nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert, dem Ende der Sowjetunion und insbesondere angesichts von aktueller Kriegspropaganda auch stark belastet.

Halten wir uns nochmals kurz vor Augen, wie es im 19. Jahrhundert aussah, als Keller den Text verfasste: Während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert waren Frauen und Kinder in den Schweizer Textilfabriken gefragte Arbeitskräfte. In manchen Betrieben arbeiteten Minderjährige bis zu 18 Stunden pro Tag. Die Arbeit war anstrengend, der Lohn bescheiden. Dann, am 21. Oktober 1877, nahm das Schweizer Stimmvolk – das sogenannte Fabrikgesetz an. Erstmals erliess der Staat auf Bundesebene Richtlinien zum Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter. Es verbesserten sich in den Fabriken Hygiene und Sicherheit. Die Auszahlung der Löhne wurde geregelt. Die Arbeitszeit eines Standardarbeits­tages wurde auf elf Stunden begrenzt, die Nacht- und Sonntagsarbeit geregelt und die Arbeit für Kinder unter 14 Jahren verboten. Frauen durften während sechs Wochen nach der Niederkunft nicht arbeiten.

2023 steht die Arbeitswelt in der Schweiz anderen Herausforderungen: Teilzeitarbeit ist durch alle Branchen ein immer beliebteres Arbeitsmodell. Der Fachkräftemangel prägt die Entwicklung von Privatwirtschaft und der öffentlichen Verwaltung. Und lebenslange Aus- und Weiterbildungen haben in der Berufswelt einen fixen Stellenwert erhalten. Und gerade Frauen sind wieder dringend gesucht in der Arbeitswelt. Was geblieben ist: Frauen sind es, die in der Gesellschaft den Grossteil von (unbezahlter) Care-Arbeit leisten.

Aber zurück zu Gottfried Keller: Er spricht in seiner Rede von der heissen Arbeit des Sommers. Bei der Arbeit im Sommer mag es für viele Erntehelferinnen und Helfer der Schweiz von damals tatsächlich «heiss» gewesen sein. Der in der Rede von 1863 erwähnte heisse Sommer verweist aber noch auf ein ganz anderes Thema: Just in jenem Jahr nahmen gemäss dem historischen Lexikon der Schweiz nämlich 88 Stationen des ersten nationalen meteorologischen Messnetzes ihren Betrieb auf. Heute greift Meteo-Schweiz auf ein modernes Boden-Messnetz mit rund 260 automatischen Messstationen im Land zurück, die alle zehn Minuten Daten zu Klima und Wetter in der Schweiz liefern. Die Wetter- und Klimaforschung kann heute über eine unvergleichbar grosse Datenlage verfügen und ist sich einig: Das Verhalten des Menschen, sein Umgang mit den Ressourcen dieser Welt hat einen Einfluss auf das System.

Was aber bringen uns nun solche historischen Vergleiche? In der Rückschau können wir Wandel und Fortschritt erkennen. Sei dieser Fortschritt sozialer, wirtschaftlicher, technischer oder gesellschaftlicher Art. Das Bewusstsein für Geschichte wiederum verankert uns im Hier und Jetzt. Und das Bewusstsein für Fortschritt öffnet uns angesichts der unterschiedlichen Tempi, mit welchen über den Globus hinweg Fortschritte erzielt werden, den Horizont und lehrt uns im besten Falle Demut. Fortschritt aber entfaltet seine ganze Wirksamkeit nur, wenn er gemeinsam als Gesellschaft erfolgt. Und nur, wenn in Solidarität mit all jenen fortgeschritten wird, die nicht das Privileg haben, hier geboren zu sein oder hier zu leben.

Fortschritt braucht ein bedachtes Vorgehen und die Inklusion aller. Natürlich, es ziehen immer einige Voraus. Sie sind für die Erzählung der Geschichte wichtig. Genauso wichtig sind aber diejenigen, die hinterherkommen. «Wieder naht der vaterländische Bettag, an welchem alle Eid­genossen vor Gott, ihren alleinigen Herrn, treten, um ihre Gewissen vor ihm, dem Allwissenden, zu prüfen, die Gebote des Unendlichen zu vernehmen und ihm für seine unwandelbare Güte zu danken.», schrieb Keller vor 160 Jahren. Ob die hehren Ziele des Bettages, wie sie Keller schildert, heute noch Gültigkeit haben, liegt in der Beurteilung jedes und jeder Einzelnen. Dass wir aber alle zumindest einmal im Jahr innehalten und «unser Gewissen prüfen», sprich überlegen, wie wir im persönlichen Umfeld und in der Gesellschaft unterwegs sind und wie unser Beitrag an die Gemeinschaft aussieht, ist nach wie vor erwünscht, wenn nicht gar gefordert.

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Wenn man von Gottfried Keller spricht sollte man dieses wichtige Zitat nicht weglassen:

„Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich große Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch!“

Nicht Wenige haben die Krisen dieser Zeit dazu missbraucht, ordentlich abzusahnen.
Auch wurde viel Geld verloren. So machten die Krankenkassen 2022 mit ihren "Investitionen" einen Verlust von 1.8 Milliarden Franken.

Auch die AHV verlor mit ihren "Anlagen" 2022 satte 4.3 Milliarden Franken. Trotzdem erreichte die AHV das dritte Mal in Folge ein positives Resultat. Gründe dafür sind hauptsächlich die generierten Mehreinnahmen durch die in der STAF beschlossenen Massnahmen.

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