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Der deutsche Autor Dinçer Güçyeter ist immer auf der Suche

Dinçer Güçyeter ist deutscher Verleger, Lyriker und Romanautor. Was ihn literarisch antreibt, erzählt er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Am (heutigen) Samstag liest er am Literaturfestival Literaare in Thun.

Agentur
sda
09.03.24 - 08:00 Uhr
Kultur
Wenn der deutsche Autor Dinçer Güçyeter auf der Bühne steht, fühlt er sich wohl. Die Menschen, die ihm zuhören, will er "mit einem leichten Gefühl, mit einem Schmunzeln" nach Hause gehen lassen, wie er sagt. Am Samstag ist er zu Gast am Literaturfestival…
Wenn der deutsche Autor Dinçer Güçyeter auf der Bühne steht, fühlt er sich wohl. Die Menschen, die ihm zuhören, will er "mit einem leichten Gefühl, mit einem Schmunzeln" nach Hause gehen lassen, wie er sagt. Am Samstag ist er zu Gast am Literaturfestival…
Keystone/GEORGIOS KEFALAS

Für sein Debüt «Unser Deutschlandmärchen» wurde Dinçer Güçyeter 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Der Roman ist die vielstimmige Geschichte einer türkischen Familie, die wegen der Arbeit nach Deutschland kam und sich in der Gemeinde Nettetal an der holländischen Grenze niederliess. Dort, im Stadtteil Lobberich, ist auch der Autor Dinçer Güçyeter 1979 geboren.

Im Roman lässt er die Mutter Fatma erzählen, warum sie 1966 dorthin kamen: «An der Grenze zu Holland soll es ein kleines Dorf geben, Lobberich, mit vielen Fabriken; Arbeiter werden gebraucht, die Chefs stehen mit grossen Plakaten vor den Toren und stellen jeden umarmend ein. Yılmaz, mein fauler Lümmel, möchte nicht im Bergbau arbeiten und will sich das kleine Dorf anschauen.» Yılmaz ist ihr Mann und der Vater des Autors Güçyeter.

Offenheit im Leben wie in der Literatur

Zwischen idyllischen Seen und Spazierwegen wird Yılmaz eine Kneipe eröffnen, an die sich der Autor selbst gerne erinnert, wie er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagt. «Das war die grösste Kneipe im Umfeld: Rund 300 Menschen haben dort reingepasst und jeden Freitag gab es türkisches Essen. Ausserdem hatte mein Vater als einer der Ersten eine Satellitenschüssel gekauft. Auf einmal gab es türkische Sender, Fussball und Pornokanäle. So kam es zu einem sehr kosmopolitischen Zusammenleben.»

Hier trafen sich LKW-Fahrer aus allen Himmelsrichtungen, Zirkusleute, Richter und Ärzte, griechische und türkische Gastarbeiter, Sintis und Romas, Jäger, aber auch Drogenhändler und Zuhälter. «Wenn du mit so vielen unterschiedlichen Charakteren aufwächst, schaust du anders auf die Welt. Alles ist berechtigt. Auch wenn dir einiges fremd oder anders scheint, oder nicht in dein Weltbild passt. Ich habe gelernt, in jede Kultur reinzufliessen und auch die anderen Seiten verstehen zu wollen, solange keine Aggression, keine Ausgrenzung stattfindet. So sollte auch die Literatur funktionieren», so Güçyeter.

Suchen, finden, verlieren

Diese Neugier und all diese Stimmen prägen Güçyeters Texte. Einige finden namentlich Eingang in die Bücher, wie etwa Vater Yılmaz und Mutter Fatma. «Auf dem Buchcover steht zwar nur mein Name, aber dahinter stecken viele hunderte Charaktere, die mich beeinflusst haben. Man muss immer hellhörig sein.»

Das Erzählen von Geschichten sei seine Energiequelle, das Schreiben ein Suchen und Finden und Verlieren: «Es gibt eine Quelle, aber das Wasser in dieser Quelle verändert sich. Da kommt Sand rein, Steine, selbst der Geschmack des Wassers ändert sich.» Dieses Suchen werde nie aufhören, nicht als Autor, nicht als Verleger.

Weil der Literaturbetrieb – und die Gesellschaft – gewisse Stimmen lange Zeit ignorierte, gründete Güçyeter vor 12 Jahren einen Lyrikverlag. Der Elif-Verlag fokussiert auf junge Stimmen und hat mittlerweile Übersetzungen aus 14 Ländern im Programm. «Es gibt eine jüngere Generation, die mit ihrer ganzen Wucht etwas Neues erzählt. Die sind unabhängig und experimentierfreudig. Ohne diesen neuen Strom ernst zu nehmen, kann ich nicht produzieren.»

Erfolgreichster Autor des Elif-Verlags ist Güçyeter selbst. Nebenbei hat er rund 17 Jahre als Fabrikarbeiter gearbeitet, nicht zuletzt, um den Verlag zu finanzieren. «Das Arbeitermilieu hat für mich einen ganz besonderen Wert. Ich habe hier Werte, Ethik und bedingungslose Freundschaft kennen gelernt. Eine solche Verbundenheit muss man in der Literaturbranche sehr lange suchen.»

Nachdem Güçyeter für den Lyrikband «Mein Prinz, ich bin das Ghetto» 2022 den renommiertem Peter-Huchel-Preis erhielt, posierte er mit einem Gabelstapler für das Magazin des Deutschen Buchhandels. «Leider wird immer wieder vergessen, dass über 80 Prozent der Schreibenden einen Brotjob haben. Das ist ein Problem in der Gesellschaft. Das Bild des Dichters mit entflammtem Herz ist nicht real. Wir haben Kinder, müssen unsere Miete bezahlen, manche bekommen Stipendien, manche eher nicht.»

Literaturfestival statt Industrie

Heute ist der Gabelstapler nur noch eine Anekdote: Die Fabrikhalle sei seit September leer, da die Produktionsstätte in der Ukraine zu Beginn des Krieges bombardiert worden war. Überhaupt sei die Industrie in den letzten 20 Jahren aus Nettetal in andere Länder weitergezogen, beispielsweise nach Tschechien oder Rumänien. Dafür gibt es dort nun auch ein Literaturfestival: «Weltliteratur im Ghetto». Veranstalter ist natürlich auch Dinçer Güçyeter.

Auf der Bühne fühlt sich Güçyeter merklich wohl. Er unterhält sein Publikum mit Anekdoten: «Es ist mir wichtig, die Menschen mit einem leichten Gefühl, mit einem Schmunzeln im Mund nach Hause zu schicken. Ein bisschen erleichtert. Das Leben ist zum einen ein Fest, eine Feier, eine Glückseligkeit; zum andern herrscht die Trauer. Es gibt unterschiedliche Facetten. Und diese will ich auch zeigen, neben dieser Schwere. Der Humor, der uns allen hilft, das Leben erträglicher zu machen.»

Vielleicht bezeichnet er deshalb auch die eigene Familiengeschichte als Märchen, so zumindest die Stimme im Buch: «Vielleicht will ich deswegen unsere Geschichte Märchen nennen, nicht um die Wahrheit zu kaschieren, nein, nur um auf deine ewig eiternde Wunde ein wenig Heilerde zu streuen. Das habe ich immer gemacht, Mutter.»

Dinçer Güçyeter liest am (heutigen) Samstag um 13.30 im Rathaus in Thun.*

*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert

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