Leichte Sprache für Christoph Keller «radikale Selbsterfahrung»
Der St. Galler Autor Christoph Keller hat mit befreundeten Autorinnen und Autoren 13 neue Geschichten in Leichter Sprache und zehn, die schon leicht waren, in einem Buch vereint. «Und dann klingelst du bei mir» ist ein erstaunliches Leseerlebnis.
Der St. Galler Autor Christoph Keller hat mit befreundeten Autorinnen und Autoren 13 neue Geschichten in Leichter Sprache und zehn, die schon leicht waren, in einem Buch vereint. «Und dann klingelst du bei mir» ist ein erstaunliches Leseerlebnis.
«Und dann klingelst du bei mir» könnte der Titel eines ganz normalen neuen Romans sein. Der Untertitel «Geschichten in Leichter Sprache» hingegen weist das Buch als Besonderheit aus.
Der Hinweis auf Leichte Sprache mag abschreckend wirken. Doch die Lektüre lohnt sich nicht nur für die leseschwache Zielgruppe, sondern auch für eine kompetente Leserschaft. Die 13 Geschichten zusammengestellt hat der St.Galler Autor Christoph Keller im Auftrag des Limmat-Verlags.
Anfängliche Widerstände gegen das Buch, etwa angesichts der grossen Schrift und der Umbrüche nach jeder Zeile, weichen bald wachsender Faszination. In diesen Texten geht es zur Sache ohne Schnickschnack und stilistische Schnörkel. So entsteht eine hohe inhaltliche Dichte, die in scheinbarem Widerspruch zu den kurzen, unkomplizierten Sätzen steht. Ein gutes Beispiel dafür ist der Text «Deine Schritte sind schön» von Ivna Žic, der fast zärtlich auf einen alten Menschen blickt:
"Deine Zeit ist das Fallen von Blättern im Herbst.
Sie ist der leise Schnee.
Schnee, der lange liegen bleibt.
Deine Zeit ist das Schmelzen von Schnee.
Deine Zeit wacht als letzte Blume im Frühling auf.
Deine Zeit ist von hier bis zum Fluss.
Der Weg kann einen ganzen Nachmittag dauern. (...)"
Neue Schreiberfahrung
Als Christoph Keller die Anfrage seines Verlags bekam, ein Buch in Leichter Sprache für kognitiv beeinträchtigte Menschen herauszugeben, war er anfänglich verwundert. «Als Autor ganz und gar nicht leichter Bücher fragte ich mich: Bin ich der Richtige? Will ich das? Kann ich das?», sagte er im Gespräch mit Keystone-SDA.
Er sprach Kolleginnen und Kollegen wie Dorothee Elmiger, Usama al Shamani, Zsuzsanna Gahse und weitere Schweizer Literaturgrössen auf das Projekt an. Sie reagierten ausnahmslos positiv, manche begeistert.
Keller gab ihnen als für ihre Textbeiträge die Regeln der Leichten Sprache vor. Kurze Sätze mit einer einzigen Aussage auf je einer eigenen Zeile, Bindestriche in zusammengeschriebenen Wörtern, die Fettung aller Negationen, das Fehlen des Passivs und der Ersatz des Genitivs mit von-Konstruktionen sind die wichtigsten Merkmale, die Leichte Sprache kennzeichnen.
Mit der «Legende von Minetta» hat Christoph Keller selber einen Text beigesteuert. «Das war eine radikale Schreiberfahrung», sagt er, «man schreibt nur das Wesentliche. Das hat sich festgesetzt in meinem Hinterkopf, und wenn ich jetzt an meinem nächsten Buch schreibe, meldet sich immer wieder die Frage: Kannst du das nicht einfacher sagen?»
Mit Weltliteratur kombiniert
Dass Franz Hohler schon immer eine Revolution auf einer halben Buchseite erzählen konnte, wird im Kontext der Leichten Sprache aufs Neue bewusst. Und dass deutsche Dichter wie Günter Eich der schwülstigen Propagandasprache der Nazis nach dem Krieg minimalistische Nüchternheit entgegensetzten, findet ein Echo in der sprachlichen Knappheit, mit der die Afroamerikanerin June Jordan alltäglichen Rassismus entlarvt.
Darüber hinaus finden sich im Buch Texte von Franz Kafka, Muriel Rukeyser, Damian Bright und anderen internationalen Grössen. «Ich wollte nicht nur ein Buch machen, das sein Zielpublikum ernst nimmt», erklärt Keller dazu, «ich wollte auch sicherstellen, dass die Texte darin ernst genommen werden». Deshalb hat er TExte von schweizerischen Literaturschaffenden in den weltliterarischen Zusammenhang gestellt. Und auch wenn die übersetzten Texte nicht vollumfänglich den Regeln der Leichten Sprache entsprechen, sind sie nun zugänglich für alle.*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.