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Zur Erbauung erbaut

Was ist ein Sanatorium? Diese scheinbar triviale Frage ist das Forschungsgebiet von Architektin Maria Harman aus Wien. Vergangen Samstag stellte sie im Forum Bau+Kultur ihre Arbeit vor.

Davoser
Zeitung
25.10.21 - 08:00 Uhr
Kultur
Die Thurgauer Schaffhauser Höhenklinik in ihrem heutigen Zustande.
Die Thurgauer Schaffhauser Höhenklinik in ihrem heutigen Zustande.
ad

Dass die Davoser mit dem Begriff vertrauter sind als Leute andernorts, liegt daran, dass Davos eine regelrechte Sanatoriumshochburg war: Über 50 ­Sanatorien und Kurpensionen zählte man hier seinerzeit. Was dies im internationalen Vergleich bedeutete, veranschaulichte eine Europakarte, auf der Maria Harman die Stationen aus einem historischen Santoriumsführer verortete. Inmitten über ganz Europa verstreuten, einzelnen Punkten kommts in den Bündner Bergen zu einer aussergewöhnlichen Häufung.

Legendäre Kurärzte wie Spengler und Turban und ihre Heilerfolge machten die Höhenkur zum medizinischen Verkaufsschlager. Die Vielfalt der Kurhäuser machte Davos zum Experimentierfeld der Sanatoriumsarchitektur.

Pioniere der modernen (Spital-)Architektur

Regelrechte Pionierarbeit im Sanatoriumsbau leisteten die Architekten Pfleghard & Haefeli aus Zürich. Sie waren am Bau, Umbau und Erweiterung von zehn grossen Sanatorien in Davos beteiligt. Ihre Sanatorien Schatzalp und Queen Alexandra (heute: Thurgauisch-Schaffhausische Höhenklinik) setzten mit ihren Flachdächern und Stahlbaukonstruktionen neue Massstäbe. Im Sinne des ­Gesamtkunstwerks entwarfen die Architekten ihre Bauten mit aufwendigen Interieurs, Möbel und kunstgewerblichen Arbeiten. Die den Zimmern vorgelagerten Balkone für die Liegekur machten die Architektur zum integralen Bestandteil der medizinischen Therapie. So sind die Balkone auch eines jener Merkmale, welches den Bautyp Sanatorium charakterisiert und zum Beispiel von einem Hotel unterscheidet. ­Harman zeigte weiter auf, dass ihre spezielle Lage oft ein vorteilhaftes Mikroklima bietet, umliegende Parks Möglichkeiten für einfache ­Spaziergänge schaffen und häufig Einrichtungen zur Unterhaltung der Gäste dazugehörten.

Rationalisierung und Formwille

Bereits 1893 forderte Karl Turban in seinen «Normalien für die Erstellung und Leitung von Heilstätten» strickte organisatorische Trennung der Patiententrakte und den medizinischen Einrichtungen. Statt ­ornamentalem Schnickschnack sollen abwaschbare Oberflächen der Räume und Möbel die Reinigung und Desinfektion vereinfachen. Ein Unterhaltungsprogramm gab es in seiner Heilanstalt(!) nicht mehr, es galt eine rigide Kurordnung. «Kompromisslose Anpassung an die Funktion. Die strengen Anforderungen lassen keinen Raum für Firlefanz.» schwärmte der Propagandist der Moderne Sigfried Gideon 1929 und machte die Sanatorien zu Vorbildern der Architektur des Neuen Bauens. «Funktion schafft hier Schönheit», war sein Paradigma. Mit der Chirurgischen Klinik in Clavadel perfektionierte der Davoser Architekt Rudolf Gaberel 1932 den Sanatoriumsbau.

Eindrücklich veranschaulichte Maria Harman anhand von vier be­deutenden europäischen Sanatoriumsbauten aus der Zwischenkriegszeit ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Entwicklung der medikamentösen Tuberkulosebehandlung machte die heilsbringenden Bauten bald darauf obsolet. 1947 verwende Chefarzt Mordansini in der Davoser Klinik Sanitas (heute: Bellagio) erstmals Streptomycin: Das Schicksal der Kurorte war damit besiegelt.

Problematik und Potenziale der Nachnutzung

In einer weiteren Forschungsarbeit, die noch in Arbeit ist, befasst sich Maria Harman damit, was mit den Sanatorienbauten anschliessend passierte. So weist sie unteranderem nach, dass nur für rund 30 Prozent der österreichischen Sanatorien erfolgreich eine Nachnutzung gefunden wurde. Die hoch spezialisierten Bauten schränken die Möglichkeiten zur Nachnutzung stark ein. Wo sich nicht wieder eine medizinische Abteilung einrichten liess, bot sich eine Umnutzung zum Hotel an. In Davos vollzog sich darum Wechsel vom Kur- zum Sportort fliessend, ehemalige Krankenzimmer füllten sich nun mit Sportgästen. Doch längst nicht alle Sanatorien hatten so viel Glück. Viele mussten Neubauten weichen, andere liegen heute brach und warten auf bessere Tage. Wie unterschiedlich die Geschichte verlaufen kann, veranschaulichten die internationalen Beispiele von Maria Harman. Das terrassierte Sanatorium (1) in Waiblingen Deutschland von Richard Doecker wurde 1960 abgebrochen; der Tuberkulosepavillion (2) in Wien Österreich von Egon Riss und Fritz Judtmann dient als Lungen- und kardiologische Abteilung im heutigen Klinikkomplex; das Sanatorium «Zonnenstraal» (3) in Hilversum Holland von Johannes Duiker zerfiel zur Bauruine, seit 1981 geniesst es höchsten Schutz als Baudenkmal und wurde 2011 aufwendig rekonstruiert. Heute dient es als Kongresszentrum. Das Sanatorium von Alvar Aalto (4) in Paimio Finnland ist heute ein Reha-Zentrum; aktuell läuft ein Antrag zur Aufnahme des Sanatoriums ins Unesco-Weltkulturerbe. Unlängst wurde das touristische Potenzial dieser frühen Bauzeugen der Moderne entdeckt, heute pilgern Kulturinteressierte aus aller Welt zu den ehemaligen Kurhäusern. Das zeigt eindrücklich, welches Potenzial in der regelrechten Sanatoriumsstadt Davos noch schlummert. Doch vorzu verschwinden wichtige Bauzeugen jener Zeit, die Klinik Wolfgang (Pfleghard &Haefeli/Umbau Rudolf Gaberel) und das ursprüngliche Kurhaus/Sporthotel Clavadel (Umbau Rudolf Gaberel) sind leider die jüngsten Beispiele dafür.

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