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Die alte Dame besuchte Davos

Die Theatergruppe der Schweizerischen Alpinen Mittelschule Davos (SAMD) inszenierte den Dürrenmatt-Klassiker in einer unerwartet fesselnden Fassung.

Davoser
Zeitung
29.04.23 - 17:00 Uhr
Kultur
Abschiedsszene im «Sertigtalerwald»: Roby (Shayan Teuscher), Claire Zachanassian (Jeanne Ammann), Alfred Ill (Finn Rücker).
Abschiedsszene im «Sertigtalerwald»: Roby (Shayan Teuscher), Claire Zachanassian (Jeanne Ammann), Alfred Ill (Finn Rücker).
zVg

Bereits im Halbdunkel der Aula entführen Vico Torrianis «Capri-Fischer» und weitere Liebesschlager das Publikum in eine Scheinidylle. Der Schmelz der Schnulzen kontrastiert beunruhigend mit dem bevorstehenden, verstörend-grotesken Bühnengeschehen. Ort der Handlung: das hoffnungslos verarmte Spizzavals, eine von der Regie (Oliver Suter und Bettina Zerr) bewusst ins Rätisch-Walserdeutsche überführte Verballhornung des Dürrenmattschen «Güllen». Weitere Anklänge an Davos setzen diverse Orts- und Nachnamen der Protagonisten, die das fiktionale Geschehen unangenehm nahe an die Realität rücken.

Rache statt Recht

Spizzavals ist in Aufruhr, weil das vergessene Nest mit Ungeduld die Rückkehr «ihrer Kläri» erwartet, die mit ihrem Geld das Städtchen von Not und Armut erlösen soll. Und dann betritt sie urplötzlich die Bühne, per Notbremse dem Schnellzug entstiegen: Die alte Dame, die vor über vierzig Jahren an einem kalten Februartag hochschwanger mit Schimpf und Schande aus Spizzavals vertrieben wurde. Alfred Ill, der Vater ihres kurz nach der Geburt verstorbenen Kindes «Geneviève», ein schmieriger, aber angesehener Krämer mit politischen Ambitionen, hatte damals nicht den Mut, zu seiner Jugendliebe Kläri Wäscher zu stehen, und stahl sich durch Bestechung billig aus der Verantwortung. Die ins horizontale Gewerbe getriebene, inzwischen zum siebten Mal verheiratete, nur noch durch Prothesen zusammen­gehaltene und steinreiche Claire Zachanassian schwört Rache und kehrt an den Ort des Geschehens zurück. Neben ihrem grotesken Gefolge – der ehemalige Richter ist mittlerweile ihr Butler, die falschen, bestochenen Zeugen sind zu kastrierten, geblendeten «Haustieren» mutiert, zwei von der Todesstrafe losgekaufte Schwerverbrecher tragen ihre Sänfte und spielen Gitarre – führt sie einen wilden Wolf, einen Sarg und ein teuflisches Angebot im Gepäck: eine Milliarde für den Mord an Ill. Der als Forderung nach Gerechtigkeit getarnte Racheakt entpuppt sich als kaltblütig inszenierte Selbstjustiz und als Verlockung, der niemand widerstehen kann. Spizzavals konsumiert alsbald fröhlich auf Kredit und verschuldet sich hoffnungslos. Das Ganze endet im meisterhaft inszenierten, kollektiven Mord an Ill, der Spizzavals zu neuem Glanz und Wohlstand verhilft.

Tragikomik zum Nachdenken

Happy End? Wie man es nimmt. Das Drama hinterlässt uns zwiegespalten: bestens unterhalten, aber auch nachhaltig nachdenklich. In ihren Rollen glänzen allen voran die grausam überzeugend agierende Claire (Jeanne Ammann), der sichtlich verunsicherte, bedrohte, aber allmählich geläuterte Ill (Finn Rücker) sowie die lavierende Bürgermeisterin (Rita Da Cruz Carvalho) und der letztlich an seinen Idealen scheiternde Lehrer (Livia Müller). Die gelungene, für ein Laientheater äusserst erfrischende und spritzige Inszenierung des Bühnenklassikers wirft Fragen auf, die hochaktuell sind. Was für eine Gesellschaft wollen wir sein? Welche Werte und Überzeugungen sollen unser Handeln als Individuum und Gemeinschaft leiten? Sind wir letztlich alle käuflich? Regiert tatsächlich Geld die Welt? Wie steht es um Begriffe wie Moral, Recht, Gerechtigkeit, Macht, Verantwortung, Rache oder Vergebung? Diese Fragen verschwinden nicht, solange der Mensch diesen Planeten bevölkert. Im Gegenteil: Sie fordern zu immer neuen Antworten heraus, theoretisch und praktisch, heute und morgen, hier bei uns in der ganzen Welt.

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