Ein Rathaus als Leuchtturm christlicher Zivilisation
Nur wer städtisch bauen kann, ist wahrer Mensch und Christ. Diesem noch im 16. Jahrhundert populären Anforderungsprofil entsprechen die Davoser dank ihres Rathauses, folgert Durich Chiampell (Ulrich Campell).
Nur wer städtisch bauen kann, ist wahrer Mensch und Christ. Diesem noch im 16. Jahrhundert populären Anforderungsprofil entsprechen die Davoser dank ihres Rathauses, folgert Durich Chiampell (Ulrich Campell).

Bei einer Feuersbrunst sah der Unterengadiner Humanist und Reformator schnell einmal dubiose Brandstifter im Solde Satans am Werk. Doch der Brand, der 1559 das mit dem Pfarrhaus zusammengebaute alte Davoser Rathaus in Schutt und Asche legte, beschreibt er eher wie einen warmen Abriss, der Platz für Prächtigeres schuf: Was jetzt da stehe, sei viel grossartiger als die fast reinen Holzbauten zuvor, wahrhaftig ein Palast – «selbstverständlich nun ganz aus Mauerwerk in festem Stein aufgeführt. Hervorzuheben ist die Heizung beziehungsweise der Ofen im Innern, etwas vom Feinsten, was die handwerkliche Fertigung anbelangt.» Damit fiel diesem Ofen die Ehre zu, ein Prädikat tragen zu dürfen, das bei Chiampell aus Regionalpatriotismus sonst einzig Bauten in den Südtälern und allenfalls noch Uhren, repräsentativen Schmiedearbeiten in Silber und Gold sowie der neuesten Waffentechnik vorbehalten blieb.
Schöpferische Handwerkskunst
Die Handwerkskunst definiert sich für Chiampell über die schöpferische Umwandlung natürlicher Ressourcen in künstliche Dinge. Vermittelst der ihm dazu verliehenen technischen Befähigung, stellt der Mensch die ihm zugedachte Rolle als Ebenbild Gottes praktisch unter Beweis. Die materielle Zivilisation aus dieser Perspektive zu betrachten, entsprach der Lehre von Bischof Wilhelm in Paris, der in einem Sinnbild den Städtebau zum Wohle wahrhaft christlicher Gemeinschaften zur diesbezüglichen Königsdisziplin erklärt hatte. Dessen Werke müssen auch unter den speziell für Bünden so bedeutsamen Zürcher Theologen und unter der Intelligenzia des 16. Jahrhunderts insgesamt bekannt gewesen sein. Andernfalls hätte sie der Zürcher Conrad Gessner nicht in seine Universalbibliographie aufgenommen. Mit seiner massiven städtischen Bauweise samt kunstgerecht gezimmerter und komfortabel geheizter Stube steht das Davoser Rathaus innerhalb von Chiampells theologischem Bezugssystem stellvertretend für die Stadt als Sinnbild christlicher Zivilisation. Die Überhöhung von Wirklichkeit beginnt bereits in frühchristlicher Zeit, als man das den Christen für die Endzeit versprochene himmlische Jerusalem in der Skyline des spät-antiken Rom konkretisiert sah. Daran anknüpfend, konstruierte jener Wilhelm noch einen Gegensatz zwischen Stadt- und Landbevölkerung und erhob die Stadt als Wohnstatt vollkommener Christenmenschen in den Rang eines Warteraums auf die ewige Seligkeit. In dieser Tradition inszenierte im 15. Jahrhundert ein Maler auf einem Fresko der Fideriser Kirche den Auftritt dreier Heiliger nicht vor der Kulisse eines Dorfes, sondern einer Stadt. Wenn Christsein mit Wohnkomfort einhergeht, ist dies für uns eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung, doch jener Bischof im fernen Paris unterschied scharf zwischen den in kunstreichen Gefügen aus Stein und Holz wohnenden Städtern und in der ungefügen Natur lebenden Waldmenschen, die er Tieren gleichsetzte. Die raffinierte Verschränkung der Baumaterialien von Holz und Stein spiegelt dabei den sozialen und politischen Zusammenhalt der idealisierten Stadtbewohner. Kurzum: Das Davoser Rathaus entsprach für Chiampell nicht bloss von seiner Architektur her, sondern auch aufgrund seiner ihm zugedachten Funktion als Ort regionaler politischer Willensbildung und sogar lokaler Tischgemeinschaft in der Wirtsstube direkt idealtypisch dem wirkungsmächtigen Sinnbild aus Paris.
Die Fixierung auf die kunstvolle Bearbeitung von Holz, Stein und Metall führte zum Paradox, dass Chiampell sich zwar detailversessen in der Beschreibung ausgeklügelter Wasserzuleitungen bei diversen Brunnen Bündens erging, doch – in einem Umfeld mit einer bis in die Prähistorie zurückreichenden Tradition in der Milchverarbeitung – kein einziges Wort verlor über das Verfahren zur Herstellung von lagerfähigem Käse, dem damaligen alpenländischen Exportschlager. Sollte Chiampell allerdings beabsichtigt haben, mit den Zeilen zum Davoser Rathaus seine potentiellen Leser diskret darauf hinzuweisen, dass sogar diejenigen, die «in obersten wilden Höhinen» lebten, trotzdem noch der Zivilisation zuzurechnen sind, blieb ihm ja gar nichts anderes übrig, als sich an die der damaligen «scientific community» vertrauten Denkmuster zu halten.
Von Gian Andrea Caduff. Der pensionierte Lehrer an der Kantonsschule forscht und publiziert zu Ulrich Campell.
Das alpine Rätien
Buchpräsentation in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturforschung Graubünden am Mittwoch, 8. März, von 19 bis 21 Uhr.
Die «Topographische Beschreibung des alpinen Rätiens» von Ulrich Campell (Durich Chiampell) ist die erste historisch-geografische Darstellung Graubündens. Der lateinische Text blieb seinerzeit ungedruckt. Die Ausgabe bringt ihn erstmals ungekürzt nach der Originalhandschrift und bietet dazu auch erstmals eine vollständige Übersetzung.
Campell schildert Land und Leute, aber auch Umwelt und Natur in den Bündner Talschaften. Besonders ausführlich wird die Landschaft Davos dargestellt: von Siedlung und Verkehr über Landwirtschaft und Handel, die politische Organisation und die soziale Gliederung bis zu den führenden Familien und wichtigen Persönlichkeiten … Der Autor war mit einer Davoserin verheiratet und kannte sich gut aus im Landwassertal.
Als Lokal für die Präsentation der Davoser Passagen aus Campells Werk bietet sich die Grosse Stube im Rathaus an. Dieser seinerzeit noch ganz neue Prunkraum wird samt dem grossen Ofen von Campell eingehend und in rühmendem Ton beschrieben.
Landammann Philipp Wilhelm führt ins Thema ein. Christian Sprecher liest aus dem Werk. Florian Hitz erläutert den historischen Text.