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Fehmarnstrände in Davos

Der grosse Würfel im Kirchner Park fällt ins Auge. Seit Samstag ist er für das Publikum geöffnet. Gezeigt wird darin Kunst, die es eigentlich gar nicht mehr gibt.

Barbara
Gassler
12.07.22 - 06:31 Uhr
Kultur
Der Kirchner Kubus ist jeweils tagsüber geöffnet und kann nach Belieben besucht werden.
Der Kirchner Kubus ist jeweils tagsüber geöffnet und kann nach Belieben besucht werden.
SO (Olivia Aebli-Item)

Es ist die dritte und letzte Station des sogenannten Kirchner Kubus. Bis Ende September werden darin fünf Werke des bekannten deutschen Expressionisten in Originalgrösse gezeigt. Dass das überhaupt möglich ist, sei einer Verkettung glücklicher Umstände zu verdanken, sagte Katharina Beisiegel, Direktorin des Kirchner Museums Davos, letzte Woche vor den Medien. Die überdimensionierten Wandgemälde – das Grösste ist nicht weniger als 4.15 Meter hoch – entstanden während eines Kuraufenthalts Kirchners 1916 in einem Sanatorium in Königstein im Taunus. Dort erhielt der unter Lähmungen der Extremitäten leidende Künstler im Rahmen seiner Therapie den Auftrag, die Wände des Treppenhauses des sogenannten Brunnenturms zu bemalen. «Kirchner schuf, was wir heute hier sehen in lediglich sechs Wochen», berichtete Beisiegel. Er stützte sich dabei auf Erinnerungen an eine letzte unbeschwerte Zeit auf der Ostseeinsel Fehmarn, die vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs abrupt beendet wurde. «Fehmarn war für Kirchner ein Inselparadies und blieb lebenslang sein Sehnsuchtsort.» Doch Kirchner schuf die Gemälde ohne eine schützende Deckschicht. So gingen sie unwiederbringlich verloren, als sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg – die Nazis hatten Kirchners Arbeiten als «entartet» deklariert und verfolgten sie entsprechend – übertüncht wurden. Doch hier griff wieder die von Beisiegel erwähnte Verkettung glücklicher Umstände: 1926 erkannte der damalige Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, Max Sauerland, den Wert der Gemälde und beauftragte einen Fotografen, sie bildlich festzuhalten. Doch bis in die 1970er-Jahre verstaubten die dabei entstandenen Farbdiapositive unerkannt in einem Archiv des Museums.

Spannende Entstehungsgeschichte

Viele weitere Jahrzehnte mussten ins Land gehen, bevor die Technik dann ­soweit war, aus den alten Glasplatten wieder den Originalen nahe kommende Bilder machen zu können. Für eine Ausstellung im Kirchnerhaus Aschaffenburg, Kirchners Geburtsort, wurden sie auf Aludibond-Platten aufgezogen und in einem nächsten Schritt wieder in den Originalkontext eingesetzt. Möglich machte das der Nachbau des Brunnenturms durch die Technische Hochschule Aschaffenburg unter der Leitung von Jens Elsebach, Leiter des Fachbereichs multimediale und technische Dokumentation. «Es war ein aufwendiges Verfahren», sagte dieser und berichtete von der 360-Grad-3D-Technik, mit der der noch existierende Brunnenturm vermessen wurde. Anschliessend wurde er in Tafelschalung nachgebaut, und ein zwölf ­Tonnen schwerer und sechs Meter grosser Würfel entstand.

Katharina Beisiegel freut sich über die Leihgabe aus Aschaffenburg.
Katharina Beisiegel freut sich über die Leihgabe aus Aschaffenburg.
SO (Olivia Aebli-Item)

Niederschwelliger Kontakt mit der Kunst

Die Werke darin konnten zuerst vom Publikum in Aschaffenburg bewundert werden, der Würfel wurde anschliessend in Königstein ausgestellt und belebt nun während der Sommermonate den Kirchner Park. «Er soll den Park beleben und Passanten auf niederschwellige Art zum Kontakt mit der Kunst einladen», beschrieb Beisiegel die Absicht. Dabei werden sie nicht alleine gelassen, denn mittels eines Fotos der Gemälde oder eines QR-Codes kann mit dem Smartphone mitten in die Welt Kirchners eingetaucht werden. Beschreibungen und Fragen führen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Bildern und können als Wegweiser in die Arbeit des Künstlers dienen. Je nach Wunsch in vierzig Sprachen oder auch also Audio. Eigentlich müsste man sich dazu nicht einmal zum Kirchner Kubus begeben. Die App funktioniert auch vom heimischen Sofa aus. Doch auf einen persönlichen Augenschein zu verzichten, wäre schade. Die Brillanz und die Tiefe der Arbeiten wirken am besten so, wie sie entstanden: an den hohen Wänden im nachgebildeten Turm.

Über einen QR-Code können Informationen abgerufen werden.
Über einen QR-Code können Informationen abgerufen werden.
SO (Olivia Aebli-Item)
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