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Akzente setzen in der Schweizer Filmkultur

Die Filmzeitschrift Cinema gibt es seit bald 70 Jahren. Was macht sie so erfolgreich? Ein Gespräch über den Reiz der Vielfalt, einen akzentuierten Auftritt und die grössten Herausforderungen.

Agentur
sda
17.06.22 - 09:00 Uhr
Kultur
"Wir sind Exotinnen und Exoten und denken die Filmkritik über die etablierten Medienformate hinaus", sagt Benjamin Eugster, Mitglied des Redaktionskollektivs von Cinema. Die Schweizer Filmzeitschrift gibt es seit fast 70 Jahren.
"Wir sind Exotinnen und Exoten und denken die Filmkritik über die etablierten Medienformate hinaus", sagt Benjamin Eugster, Mitglied des Redaktionskollektivs von Cinema. Die Schweizer Filmzeitschrift gibt es seit fast 70 Jahren.
Keystone/MICHAEL BUHOLZER

Es mag anachronistisch anmuten, in der von Digitalität und Online-Medien geprägten Gegenwart dem Kino jährlich ein ganzes Buch zu widmen. «Wir sind Exotinnen und Exoten und denken die Filmkritik über die etablierten Medienformate hinaus», sagt denn auch Benjamin Eugster, Mitglied des Redaktionskollektivs von Cinema. Das sei gleichzeitig Chance und Alleinstellungsmerkmal.

Seit jeher wird für die Jahresausgabe ein Thema gewählt, das sich wie ein roter Faden durch die unterschiedlichen Beiträge zieht. «Bei der Themenfindung nehmen wir einerseits Strömungen und Fragen auf, die in der Luft liegen, die breit diskutiert werden. Andererseits möchten wir damit aber auch selbst Akzente in der Schweizer Filmkultur setzen.»

Autorinnen und Autoren werden direkt angefragt, um zum Beispiel einen umfangreichen Essay oder ein pointiertes Statement zu schreiben. «Es gibt aber auch immer Menschen, die auf uns zukommen, weil sie etwas beitragen wollen zum gewählten Gebiet.» Das Kollektiv schaut darauf, dass sich eine gute Mischung ergibt aus frischen Stimmen und Artikeln von Personen aus dem festen Pool.

Anschliessend kommt die Textarbeit: es wird gesichtet und gegenlesen, angepasst und angereichert. Im Herbst schliesslich Layout und Druck, damit das Werk pünktlich auf den Start der Solothurner Filmtage im Januar veröffentlicht werden kann.

Vertiefte Filmberichterstattung

Parallel dazu ist Cinema unter dem Jahr mit Kritiken zu aktuellen Filmen online präsent. «Beim Austausch mit Produzentinnen und Filmschaffenden merken wir, dass wir wahrgenommen werden, dass unsere Stimme wichtig ist», sagt Eugster. Da werde auch schon mal das Bedauern geäussert, dass ein Film nicht berücksichtigt wurde.

«Wir sind das einzige Medium, das sich regelmässig in dieser Intensität, Tiefe und Breite und in diesem Umfang mit allen Facetten des heimischen Filmschaffens auseinandersetzt und die Schweizer Filmgeschichte ohne Unterbruch seit so vielen Jahren begleitet», erklärt Eugster. Gerade diese Vielfalt der Beiträge macht den Reiz aus: vom fundierten Hintergrundbericht zum prägnanten Essay, vom literarischen Beitrag zum künstlerischen Bildessay ist für alle Leserinnen und Leser etwas dabei.

Eine der grössten Herausforderungen sei die Fragmentierung des Publikums. «Hier geht es uns nicht anders als den meisten Medientiteln», sagt Eugster. «So vieles wird angeboten, so viele buhlen um die Aufmerksamkeit der Menschen.» Ein Like zu setzen in den Sozialen Medien sei etwas, das Buch dann zu kaufen, etwas anderes.

Kein selbstzufriedener Monolith

Bald 70 Jahre ist es her seit der ersten Ausgabe. Eine Ewigkeit. Vor allem mit Blick auf die Gegenwart, in der Titel kommen und gehen und sich manch eine Publikation kaum mehrere Jahre halten kann.

Trotzdem ist Cinema kein unbeweglicher Block, kein fremdfinanzierter Sesselkleber, kein selbstzufriedener Monolith. Die Macherinnen und Macher sind sich ihrer privilegierten Position aufgrund des finanziellen Engagements von Kulturfachstellen und Stiftungen durchaus bewusst. Doch Cinema hat sich nie ausgeruht, sondern sich immer wieder hinterfragt, neu erfunden, neu positioniert.

Zum letzten Mal vor einigen Jahren, als sich das Kollektiv entschieden hat, das Jahrbuch gänzlich auf die Schweizer Filmkultur auszurichten und dennoch dem monothematischen Ansatz treu zu bleiben. Heisst: Pro Band gibt es ein Motiv, ein Stichwort. Darum herum kumulieren sich die Texte aus und zur Schweizer Film- und Medienkultur. Die Artikel sind mal enger, mal loser mit dem Thema verbunden.

«Mit dieser Änderung wollten wir unseren Auftritt akzentuieren, unseren Zugang schärfen», erklärt Eugster. Nun gehe es darum, das Online-Angebot, also den Bereich mit den aktuellen Kritiken, zu stärken. «Und wir wollen natürlich hybrid bleiben; also weiterhin virtuell und in Buchform präsent sein.»

Die Veränderungen im Schweizer Film nimmt das Cinema-Kollektiv so genau wahr wie keine zweite Publikation hierzulande. Was sich in den letzten Jahren vor allem verändert habe, seien zwei Dinge, so Eugster: «Es gibt mehr Produktionen denn je. Und auch die Inhalte sind breiter und diverser denn je.» Das war auch mit ein Grund für die Themenwahl der letzten Ausgabe: «Trennlinien». «Wir wollten diese Vielstimmigkeit abbilden, uns gleichzeitig aber auch fragen: Wo verlaufen die Grenzen, die Gräben?», sagt Eugster.

Suche nach Humor im Schweizer Film

Apropos Vielstimmigkeit: Gerade die letzten Monate haben mit «La mif», «Presque» und «Olga» gezeigt, wie stark das Kino aus der Romandie und dem Tessin ist. «Wir wollen vermehrt mehrsprachig publizieren und auftreten», so Eugster. Es sei auch weiterhin noch «viel Röstigraben in den Köpfen».

Die Pandemie hat dem Jahrbuch im Gegensatz zu den Spielstätten und den Kinobetreiberinnen wenig zugesetzt. Eugster sagt es pragmatisch: «Wir sind dort, wo Filme laufen.» Es spiele nicht so sehr eine Rolle, ob das in einem Kinosaal oder auf einer Online-Plattform sei. Kritisch hinschauen, analysieren und hinterfragen könne man überall.

So seien die virtuellen Formate – Online-Podien oder -Workshops zum filmjournalistischen Schreiben – der Festivals in den letzten Jahren tolle Möglichkeiten gewesen, zur Filmkultur beizutragen. Dennoch sei es natürlich ein Höhepunkt gewesen, in diesem Jahr wieder vor Ort und direkt mit Filmemacherinnen und Filmemachern und dem Publikum ins Gespräch zu kommen.

Im vorletzten Jahr der Mut, in diesem die Trennlinien. Und nun? «Im nächsten Band beschäftigen wir uns mit dem Humor im Schweizer Film», sagt Eugster. Pause. Kurzes Schweigen. «Genau. Vielen geht es so: Sie fragen sich, ob es den überhaupt gibt. Wir gehen auf Spurensuche und werden Antworten präsentieren.»

*Dieser Text von Raphael Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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