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Ein Bauerndorf wird Kurort

Dreissig Interessierte machten sich am letzten Samstag trotz garstigem Wetter mit dem Forum Bau+Kultur auf nach Clavadel. Dies war der Ausgangspunkt für den Rundgang zum Thema «Balkonien».

Davoser
Zeitung
22.05.21 - 17:00 Uhr
Kultur
Das Sporthotel, Fida Gadmers ursprüngliches Kurhaus, wartet auf den Abbruch. Im Bild zu sehen sind Peter Flury (l.) und Jürg Grassl (Mitte).
Das Sporthotel, Fida Gadmers ursprüngliches Kurhaus, wartet auf den Abbruch. Im Bild zu sehen sind Peter Flury (l.) und Jürg Grassl (Mitte).
zvg/Johannes Frigg

Geleitet wurde die Tour vom Leiter des Medizinmuseums, Peter Flury, und Architekt Jürg Grassl.

Der Umweg mit dem Kessler-Bus über die Mühle Sertig veranschaulichte, wie abgeschieden die Bauernsiedlung Clavadel um 1830 war, als das berüchtigte «Stinkwässerchen», eine kalte Schwefelquelle, unterhalb der Siedlung erstmals zum Baden gefasst wurde. Der Bädertourismus erlebte damals in Graubünden eine grosse Blüte. In Tarasp, in Fideris, in Jenaz, und jüngst auch «in den Rietern» oberhalb dem heutigen Spinabad in Glaris. Sogenannte Baleonologen untersuchten jedes aussergewöhnliche Wässerchen auf seine angebliche Heilwirkung und legten damit den Grundstein für ein lukratives Geschäft: Wellnesstourismus.

Vom Bündnerfleisch zum Luftkurort

1886 baute der in eine Clavadeler Familie eingeheiratete Architekt Hermann Schmitz (bekannt als Entwerfer des Krematoriums am Platz) das Bad Clavadel zum stolzen Gasthaus mit Kurbad aus. Schon nach der ersten erfolgreichen Saison baute man eine zusätzliche Dependance: die Villa Erika mit ihrem flachen Dach und dem grossen Südbalkon. Dieser neue Baustil fand in Clavadel seine Fortsetzung in der Villa am Hof (1890). Zusammen lassen sie das Bauernhaus Kindschi daneben sprichwörtlich alt aussensehen. Denn die Walser gönnten sich typischerweise bloss ein schmale «Laube» an der Längsseite. Auf diesem Balkon verweilt höchstens die Wäsche oder das «tiga» Fleisch zum Trocknen. Das dieses Bündnerfleisch an der Luft nicht verrottet, liess Landarzt Alexander Spengler glauben, dass die Davoser Luft eine bakterizide Wirkung hat. So erklärte er sich, dass hier die Volksseuche Tuberkulose nicht vorkam und proklamierte Davos fortan als Luftkurort. Doch Spenglers These war ein Trugschluss. Wie der Mediziner Peter Flury erklärte, wissen wir noch gar nicht so lange, dass nicht die «Luft», sondern die Sonne die «heilende» Wirkung entfaltet. Stark vereinfacht erklärt, regt die ultraviolette Strahlung im Körper die Vitamin-D-Produktion an, was die Immunabwehr stärkt.

Ein «Fräulein» wird Kurortsgründerin

Seit 1891 führte ein neues Strässchen «direkt» nach Davos. Dadurch war Clavadel dem Weltkurort Davos näher gerückt und beliebtes Ausflugsziel geworden. Das Geschäft im Bad florierte, bis 1892 am Platz die Kirchenglocken am Platz Sturm läuteten: Das Bad Clavadel stand in Flammen. Einzig der Weinkeller überstand den Brand, die Heilquelle versiegte und damit auch der Wille der Betreiber. Den Mut, einen Neustart zu wagen, hatte ein junges «Fräulein» aus dem Sertig. Die Bauerstochter Fida Gadmer hatte im Bad Clavadel schon als Schülerin gejobbt und lernte schliesslich das Gastgewerbe in Holsboers Curhaus am Platz. Mit dem Ersparten ging sie reisen und lernte Sprachen in Frankreich, Italien und England. Als ihre Mutter bat «Ga nüm sövel wyyt furt», fasste sie den Entschluss, ein eigenes Kurhaus zu bauen. Die tifige Geschäftsfrau hatte im boomenden Kurort Davos zahlkräftige Unterstützer gefunden,und eröffnete als Dreissigjährige ihr eigenes Kurhaus in Clavadel für 20 Gäste. Sie war so erfolgreich, dass sie schon kurz darauf die Villa am Hof als Dependance und Bauerngüter hinzukaufte. Und sie hatte noch viel grössere Pläne: Mit dem Baumeister und späterem Landammann Gaudenz Issler gründete sie eine AG und baute 1902 ein riesiges Sanatorium an den Rand der ertragreichen Clavadeler Wiesen: das Englische Sanatorium. Heute steht da das neue Personalhaus der Klinik, nur der Saalanbau ist noch immer der Alte.

Von der Walser «Laube» zum Liegebalkon: Clavadeler Balkonentwicklung.
Von der Walser «Laube» zum Liegebalkon: Clavadeler Balkonentwicklung.

Turban importiert die «Davoser»-Liege

Wie es in den Davoser Kursälen zu und her ging, schockierte Karl Turban: «Fiebernde und Blutspuckende werden auf Bergspaziergänge geschickt. Bei den regelmässigen Bierkonzerten im Kurhaus singen Kehlkopfkranke die Trinklieder nach Kräften mit. Bei Festlichkeiten in den Hotels tanzen schwerkranke Herren und Damen in betrunkenem Zustand – und die Ärzte schauen zu.» Ihm war klar: Davos ist nicht «immun», es braucht viel Disziplin, um die hochansteckende Krankheit in den Griff zu kriegen. Als Tuberkuloseforscher assistierte er dem Entdecker des TB-Bazillus, Prof. Robert Koch, bis er selber krank wurde. Nach einer Kur an der Riviera kam er nach Davos, wo er die Leitung eines neuen Sanatoriums (heutiges Sunstar) übernehmen konnte. Dafür holte er sich noch Tipps beim deutschen Liegekur-Pionier Peter Dettweiler und brachte diese Praxis samt den dazugehörigen «Werkzeugen» nach Davos: die strenge Kurordnung, die Liegehallen, die Rattan-Liegestühle und den Spucknapf. Seine Kurerfolge überzeugten andere, ebenfalls nach Turbans «Normalien für die Erstellung von Heilstätten für Lungenkranke in der Schweiz.» zu bauen. Diese hatte der findige Arzt mit dem für seinen Schlössli-Stil bekannten Architekten Jacques Gros (unter anderem Hotel Dolder, Zürich) entwickelt. Bald hatten alle Davoser Kurhäuser geschlechtergetrennte Abteilungen, Liegepavillons im Garten oder als Solarium auf dem Dach. Eine Liegehalle, die jahrzehntelang den Kurpark schmückte, ist in Clavadel an ihren Ursprungsort zurückgekehrt. Wie Kurgäste hier tage-, ja monatelang bei Wind und Wetter unter strenger ärztlicher Kontrolle «still liegen» und «auf Genesung hoffen» mussten, wusste Führungsteilnehmer Klaus Bergamin noch aus eigener Erfahrung zu berichten.

Vom Kranken zum Sanatoriumsarchitekt

Auch Rudolf Gaberel kam 1904 tuberkulosekrank nach Davos. 1906 konnte er die Arbeit als Architekt in Gaudenz Isslers Chaletfabrik aufnehmen. Das Landhaus Livonia von 1912 oberhalb der Klinik trägt seine frühe Handschrift. Für einen deutschen Privatier entstand ein luxuriöses Ferienhaus im Bündner Heimatstil. Erker, Freitreppe, Rundbogen, Fenstergitter und Gartenmauer erfüllen die Bündner-Klischees, doch die Ornamentik der Sgraffiti zeigt, dass dieses Haus auch der Mode seiner Zeit verpflichtet ist: dem Jugendstil. Davon zeugt auch die üppige Ausstattung mit Details, die Gaberel von der Dachspitze bis zur Türklinke entwarf. Mit dem ersten Weltkrieg kehrten viele ausländische Gäste der Schweiz den Rücken, das grosse Sanatorium Clavadel geriet mehr und mehr in finanzielle Schwierigkeiten. Der Besitzerwechsel durch die Zürcher Heilstätten in Wald 1917 war eine rettende Übernahme für beide Parteien. Die Zürcher Volksheilstätte hatte schlicht nicht mehr genug Krankenbetten für die erkrankten Bürger im eigenen Kanton.

Auch das Livonia wurde vom Kurbetrieb übernommen und 1923 von Rudolf Gaberel zum Kindersanatorium ausgebaut. Die doppelstöckige Liegehalle zeigt die Weiterentwicklung. Patienten konnten nun direkt vor ihren Zimmern kuren, ohne das Haus zu verlassen. Damit die vielen jungen Kurgäste Platz fanden, ist der Balkon deutlich breiter als das Gebäude. Als «Hausarchitekt» der Clavadeler Kliniken hatte Rudolf Gaberel auch ein Bauernhaus zum Arzthaus Villa Olivia umgebaut. Es wurde 1992 spektakulär um 123 Meter verschoben, statt abgebrochen. Aber auch einen Reformstall auf der Clavadeleralp. Der Landbesitz der Klinik reicht noch heute hoch bis unters Jakobshorn.

Gaberels Meisterwerk

Über die Alpstrasse gelangte die Gruppe von hinten zur 1932 von Rudolf Gaberel erbauten Chirurgischen Klinik. Die ursprüngliche Eingangsfront ist heute zur Rückseite verdammt: Im Gegensatz zur heutigen Rehaklinik hatte Gaberel das Durcheinander des Zugangsverkehrs hinter die Klinik verbannt, nichts sollte die Ruhe der auf Südbalkonen kurenden Patienten stören. Hinter dem langen Riegel aus Patientenzimmern ragt der Infrastrukturtrakt in den Hang. Hier war Erschliessung, Speisesaal, aber eben auch der Operationssaal untergebracht, welcher der Klinik ihren Namen gab: Nun wurde der Tuberkulose auch mit dem Skalpell zu Leibe gerückt. Peter Flury erklärte eindrücklich, wie beim Pneumothorax ein infizierter Lungenflügel absichtlich zum Kollabieren gebracht wird, damit dieser «ruhiggestellt» ausheilen kann. Die Klinik markiert den Höhepunkt des modernen Sanatoriumbaus. Komplett stützenfrei überspannen die Liegebalkone die ganze Südfront. Kein Schattenwurf soll die Liegekur an der Sonne trüben. Dank schwellen-loser Türen konnten die Patienten nun direkt im Spitalbett auf die den Zimmern vorgelagerten Liegebalkone geschoben werden. Für Tage, an denen der Südwind die Balkone durchzog, stand auf dem rückwärtigen Anbau ein windgeschütztes Dachsolarium bereit, bei noch garstigerem Wetter kurte man hinter Glas in Veranden an den Gebäudeecken. «Die Raffinesse in der Detailausführung zeugt von der intensiven Auseinandersetzung Gaberels mit den lokalen Gegebenheiten», berichtet Architekt Jürg Grassl. So sind die Balkone leicht zurückgestaffelt, damit das Tauwasser vom oberen nicht auf den unteren tropft. Die Gaberel-typischen Reling-Geländer sind unter der Balkonplatte befestigt, damit sie nicht im Tauwasser stehen und rosten. Ein Meisterwerk bis ins letzte Detail. Kein Wunder, zog der Bau internationale Aufmerksamkeit von Ärzten und Architekten auf sich. Doch die Tage Liegekur waren bald gezählt – ausgerechnet im Kurort Davos wurde 1945 die erste TB-Patientin medikamentös geheilt. Mit dem Wundermittel aus der Spritze, dem Streptomycin, nahte auch das Ende von Davos als «Luftkurort». Doch die Liegebalkone blieben und prägen das Bild der Stadt bis heute!

Was wurde aus Fida Gadmers Kurhaus?

Auch hier war Rudolf Gaberel am Werk. Er hat dem alten Holzchalet 1934 Balkone angebaut und ihm 1938 mit einer Flachdachaufstockung und Schindelkleid ein neues Gesicht gegeben. Die sonnengegerbten Holzbalken des alten Chalets verschwanden unter einem weissen Anstrich. Neben Gaberels vielbeachteten modernen Neubauten sind aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts, wo Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft im Baugewerbe an Bedeutung gewinnen, seine Umbauten wegweisend, gibt Architekt Jürg Grassl zu bedenken. Aus alten Häusern machte er neue. Erhalten und Gestalten war seine Devise, er verstand das Umbauen stets als Weiterbauen. Mit Einbauten, Anbauten und Aufstockungen hat er diversen Davoser Bauten den neuen Ansprüchen angepasst und ihnen so viele weitere Lebensjahre geschenkt. Leider geniessen nur wenige seiner Umbauten die Wertschätzung als geschütztes Baudenkmal, viele sind schon verschwunden. Jüngst zum Beispiel die bahnbrechenden stützenfreien Balkonanbauten der ursprünglichen Klinik Wolfgang. Das Sporthotel hat als Unterkunft für die Besucher der Rehapatienten und beliebtes Ausflugsrestaurant die Kurhaus-Vergangenheit weit hinter sich gelassen.

Dass darin noch das ursprüngliche Clavadeler Kurhaus steckt, ging vergessen. Der jüngste Umbau des Sporthotels endete im Debakel: Baustopp wegen schwerwiegender statischer Mängel. Jetzt künden die vielen Bauprofile unterhalb der Clavadelerstrasse an, neue Investoren wittern in Clavadel das grosse Geschäft. Die Tage des Sporthotels und der Villa am Hof sind bald gezählt. «Schade!» befanden die Exkursionsteilnehmer einhellig. (pd)

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