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Rolf Lapperts neuer Roman bringt «tausend Welten in Griffweite»

Von der vagen Idee bis zum fertigen Buch dauerte es rund sieben Jahre: Rolf Lapperts neuer Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» ist wuchtig, poetisch und unbedingt lesenswert.

Agentur
sda
17.08.20 - 10:57 Uhr
Kultur
Der Zürcher Autor Rolf Lappert wurde bereits mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Sein Können stellt er nun mit dem Roman "Leben ist ein unregelmässiges Verb" erneut unter Beweis. (Archivbild)
Der Zürcher Autor Rolf Lappert wurde bereits mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Sein Können stellt er nun mit dem Roman "Leben ist ein unregelmässiges Verb" erneut unter Beweis. (Archivbild)
Keystone/GAETAN BALLY

Eigentlich stecken in diesem Buch mindestens vier Bücher. Rolf Lappert beleuchtet in «Leben ist ein unregelmässiges Verb» die Geschichte von vier Kindern, die ihre ersten Jahre abgeschottet von der Aussenwelt verbringen. Linus, Ringo, Leander und Frida kennen von der Welt nur, was die «Alten», wie sie die Erwachsenen nennen, ihnen erzählt haben. Und das scheinen vor allem Unwahrheiten und ideologische Verzerrungen gewesen zu sein. Den Erwachsenen wird die Obhut entzogen und die vier Kinder kommen einzeln bei Verwandten und Pflegefamilien unter. Was folgt, ist strampeln, Halt suchen, hinfallen und wieder aufstehen in einer völlig fremden Welt.

Kapitelweise geht der Zürcher Autor, der 2008 für seinen Roman «Nach Hause schwimmen» den Schweizer Buchpreis erhielt und für den Deutschen Buchpreis nominiert war, den Lebenswegen der vier Heranwachsenden nach. Und er lässt ihre Erinnerungen aufblitzen wie kleine Lichter, die grosse Schatten werfen.

Vier Jahre Schreibzeit

«Leben ist ein unregelmässiges Verb» ist fast 1000 Seiten lang. Das Schreiben habe vom ersten bis zum letzten Satz etwa vier Jahre gedauert, erzählt der 61-Jährige Autor gegenüber Keystone-SDA. Vorher habe er sich die Geschichte ein Jahr lang immer wieder durch den Kopf gehen lassen, sich die Handlung zurechtgelegt, Schauplätze ausgesucht, recherchiert und Notizen gemacht. «Irgendwann habe ich endlich mit dem Schreiben begonnen, und das Meiste, das ich mir vorgenommen hatte, entweder vergessen, verändert oder verworfen. Das Schöne am Schreiben ist ja, dass man nie so genau weiss, wie die Geschichte weitergeht.»

Am Anfang - vor sieben Jahren - stand eine vage Idee. Er sei seit jeher fasziniert von Menschen, die sich von der Welt abgewandt hätten, um nach eigenen Regeln zu leben, sagt Rolf Lappert. «Dokumentationen über die Amish People, über die Bewohner von utopischen Künstlerkolonien bis hin zu den Verblendeten und Verrückten, die irgendwo in der Wildnis als Sekte hausen, finde ich ebenso spannend wie beängstigend.» Denn in keiner dieser Gemeinschaften seien die Menschen wirklich frei. Auch in der Kommune, die der Autor für seinen Roman erfunden hat, ist niemand frei. «Es handelt sich um eine Gruppe von vier Frauen und fünf Männern, die einen abgelegenen Bauernhof in Norddeutschland ökologisch bewirtschaften. Sie verstecken ihre vier Kinder und lassen sie nicht zur Schule gehen.» Als die Kommune von den Behörden aufgelöst wird, sind die Kinder zwölf Jahre alt. «Das war der Ausgangspunkt für meine Geschichte: Was passiert mit den vier Kindern, die bisher nichts kannten als ihre eigene, kleine Welt?»

Die verschiedenen Handlungsstränge und Lebensgeschichten sind wie ein Spinnennetz miteinander verwoben, immer wieder tauchen Rückblenden und Erinnerungen auf, ergeben sich Seitenstränge. Um den Überblick zu behalten, hat sich Rolf Lappert - zum ersten Mal, seit er schreibt - eine Art Fahrplan gemacht. «Das war ein Kalender mit Feldern von 1980 bis 2018, vom Zeitpunkt der Auflösung der Kommune bis zu dem Jahr, in dem die vier Kinder, die alle 1968 zur Welt kamen, 50 Jahre alt sind.» In die Felder trug er alles ein, was ihm wichtig erschien. Irgendwann verliess er sich darauf, auch ohne Plan die Übersicht zu behalten. «Das funktionierte nicht immer, und ich musste mehrmals nachbessern, weil ich mich in den Zeiten vertan und die Chronologie falsch wiedergegeben hatte.»

Dicht und überraschend

Auch jetzt noch ist «Leben ist ein unregelmässiges Verb» kein Buch, das man mit halber Aufmerksamkeit lesen kann. Dafür ist es zu dicht, zu sprunghaft. Auch die Erzählweise ändert sich oft: Fridas und Leanders Leben wird von einem allwissenden Erzähler geschildert, Ringo erzählt in Ich-Form und in einer Schwere, die sich als Moll-Tonart bezeichnen liesse. Bei Leander und Frida taucht ab und zu ein leichter, humorvoller Ton auf, bei Ringo und Linus dominiert die Ernstahftigkeit. Und im letzten Teil beginnt eigentlich ein fünftes Buch, indem eine neue Figur eingeführt wird. Lapperts dringliche, poetische und dennoch leichte Sprache erzeugt aber einen Sog, der das Werk bis zum Ende mitträgt.

Scheitern tun sie alle, irgendwie. Aber nicht alle mit derselben Wucht. Eines aber haben Frida, Leander, Linus und Ringo gemeinsam: Als sie in die fremde Welt geschleudert werden, bleiben ihnen nichts ausser Erinnerungen und das, was sie bisher in Büchern gelesen haben. Oliver Twist, Tom Sawyer und Co. helfen ihnen, das Fremde zu ertragen, es einzuordnen. Damit ist «Leben ist ein unregelmässiges Verb» auch eine Ode an die Literatur selbst. Bücher um sich zu haben, bedeute immer auch, Inspiration, Ablenkung, Trost, Herausforderung und vieles mehr, sagt Rolf Lappert: «Tausend Welten buchstäblich in Griffweite.»*

*Dieser Text von Maria Künzli, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert.

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