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«Wiederbelebung Berlins» - Vor 25 Jahren verhüllte Christo Reichstag

Es war wohl das erste Sommermärchen des wiedervereinten Deutschland, noch weit vor der Fussball-WM elf Jahre später. Mit viel silbrig schimmerndem Stoff und dicken blauen Bändern verschaffte das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude 1995 dem gerade aus dem Teilungsschlaf erwachenden Berlin und fünf Millionen Besuchern zwei traumhafte Wochen.

Agentur
sda
18.06.20 - 12:21 Uhr
Kultur
ARCHIV - Gewerbekletterer rollen die Verhüllungsplanen für den Berliner Reichstag vom Giebel des Bauwerks ab. Direkt über dem Haupteingang und der Schrift "Dem Deutschen Volke" fällt bei der Aktion des Verpackungskünstlers Christo der Stoff entlang der…
ARCHIV - Gewerbekletterer rollen die Verhüllungsplanen für den Berliner Reichstag vom Giebel des Bauwerks ab. Direkt über dem Haupteingang und der Schrift "Dem Deutschen Volke" fällt bei der Aktion des Verpackungskünstlers Christo der Stoff entlang der…
Keystone/dpa/Wolfgang Kumm

Vor 25 Jahren verhüllten sie mit «Wrapped Reichstag» vom 24. Juni bis 7. Juli den späteren Bundestag. Dem nachher ebenso berühmten wie geliebten Projekt gingen Jahrzehnte voller Planung, Zwist und Zweifel voraus.

Eine Postkarte markierte den Anfang. Das Motiv zeigte das massige Gebäude des Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Reichstags. Der in Berlin lebende US-Historiker Michael S. Cullen gab die Karte mit auf den Weg in die USA zu Christo (1935-2020) und Jeanne-Claude (1935-2009). Auf der Postkarte notiert: der Vorschlag, den Reichstag zu verhüllen.

Für Christo, 1956 aus seiner bulgarischen Heimat in den Westen geflohen, hatte das Projekt Symbolcharakter. «Der einzige Ort der Welt, an dem sich der Osten und der Westen auf dramatische Art und Weise getroffen haben, war Berlin», sagte Christo kurz vor seinem Tod Ende Mai der Deutschen Presse-Agentur. «Und deswegen wollte ich den Reichstag verhüllen, das einzige Gebäude, das unter der Aufsicht von allen Beteiligten war.»

Der Reichstag war bereits Symbol deutscher Geschichte. In zehn Jahren vom Architekten Paul Wallot im Neorenaissance-Stil erbaut, diente das massige Gebäude als Parlament im deutschen Kaiserreich (1871-1918) wie auch in der folgenden Weimarer Republik. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief von einem der Balkone 1918 die Republik aus.

1933 instrumentalisierten die Nationalsozialisten den Reichstagsbrand zur Festigung ihrer Macht. Zum Kriegsende 1945 wehten Sowjetfahnen über einem fast völlig zerstörten Trümmerhaufen. Ernst Reuter rief hier 1948 während der Berlin-Blockade: «Völker der Welt, schaut auf diese Stadt». Zur Mauer konnte spucken, wer zwischen 1961 und 1989 hinter dem Reichstag langging. Auf den Treppen des Gebäudes wurde am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit gefeiert. Diese Häufung historischer Momente sollte das Projekt für Christo und Jeanne-Claude nicht leichter machen.

«Wie mit allen unseren Projekten war die grösste Herausforderung daran, die Erlaubnis zu bekommen», erinnerte sich Christo. «Da kann man nicht einfach nur einen Brief schreiben, da muss man sich wahnsinnig engagieren.»

Das galt besonders für den Reichstag, für den die Spitze des Bundestags zuständig war. Karl Carstens als Bundestagspräsident (1976-1979) war dagegen, sein Nachfolger Richard Stücklen auch, Philipp Jenninger lehnte das Projekt schliesslich 1987 ein drittes Mal offiziell ab.

Zwei Faktoren sollten die Lage ändern: Die Wahl von Rita Süssmuth zur Bundestagspräsidentin 1988 und der Fall der Mauer ein Jahr später. «Wenn Rita Süssmuth nicht gewählt worden wäre, hätte das Reichstags-Projekt nicht stattgefunden», so Christos Urteil.

«Ich war begeistert von den Möglichkeiten, die in diesem Projekt steckten. Für unser Land, für die Menschen hier und für die Menschen jenseits von Deutschland», sagt die CDU-Politikerin Süssmuth der dpa rückblickend. Damit sollte ein anderes Deutschland präsentiert werden. «Das war nicht das aggressive Deutschland. Es war eine Botschaft von Kunst und Kultur, die in die Welt ausstrahlte.»

Den Streit um das Projekt sollte eine Abstimmung im Bundestag lösen. Der Weg zur Mehrheit war mühsam. Ex-Kanzler und Projekt-Fan Willy Brandt (SPD) hatte geraten, fraktionsübergreifend um Zustimmung zu werben. Das Künstlerpaar besuchte 352 Abgeordnete, «manchmal mussten wir sogar mit ihrer Wählerschaft reden - in Kindergärten oder Schulen».

Erstmals stimmte damit im Februar 1994 nach Einschätzung des Kunsthistorikers Matthias Koddenberg ein demokratisch gewähltes Parlament über ein Kunstwerk ab. Kanzler Helmut Kohl (CDU) und CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble waren strikt gegen das Projekt. «Mit der geforderten namentlichen Abstimmung konnten sie genau kontrollieren, wo die Stimmen herkamen», sagt Süssmuth, «Kohls Hoffnung auf ein Scheitern des Projekts war, dass sich die Regierungsmehrheit in der Entscheidung widerspiegeln würde.»

In der Debatte hoffte Peter Conradi (SPD) auf «andere, bessere, friedlichere Bilder von Deutschland als die Bilder der Gewalt von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda». Burkhard Hirsch (FDP) warnte vor «einer PR-Kampagne». Heribert Scharrenbroich (CDU) wollte für Deutschland und Berlin die Chance, «wieder auf die Weltbühne der Kunst zurückzukehren».

Schäuble warnte vor «Experimenten» mit dem Reichstag und sprach gar von der «Gefahr, dass das Vertrauen zu vieler Mitbürger in die Würde unserer demokratischen Geschichte und Kultur Schaden nehmen könnte».

Für Süssmuth führten «diese Reden, die für mich auf so übertriebene Weise einen sakrosankten Reichstag betonten», zur überraschend deutlichen Mehrheit von 292 gegen 223 Stimmen. «Meine Ablehnung war ein Irrtum», sagte Schäublespäte. Auch für ihn war dann der umhüllte Reichstag «ein unglaubliches ästhetisches Vergnügen». Ähnlich ging es der damaligen Umweltministerin Angela Merkel. «Ich war auch dagegen. Mittlerweile habe ich mir den verhüllten Reichstag aber angeguckt und finde ihn schön», sagte sie während des Projektes.

Für die Realisierung blieb nicht viel Zeit. Schliesslich sollte der britische Architekt Norman Foster den Reichstag von 1995 bis 1999 als künftiges Parlamentsgebäude des Bundestages umgestalten.

Es sollte eine Materialschlacht werden: Zehn Firmen produzierten, eine Stahlkonstruktion schützte Türme, Dach, Statuen und Steinvasen, zudem konnte so das in Falten gelegte Gewebe wie ein Wasserfall vom Dach auf den Boden fallen. 90 Gewerbekletterer und 120 Montagearbeiter verhüllten den Reichstag mit 100 000 Quadratmetern dickem Polypropylengewebe, dem eine Aluminiumbeschichtung den silbernen Glanz verlieh. Alles wurde mit 15,6 Kilometern blauem Polypropylenseil verschnürt. Die 13 Millionen Dollar für das Projekt finanzierten Christo und Jeanne-Claude wie immer selbst über den Verkauf von Zeichnungen, Skizzen und Entwürfen.

Rund fünf Millionen Menschen liessen sich vom Zauber des Kunstwerks einfangen. «Die Besucher dort waren in Stille schauende, nachdenkliche, staunende Menschen», erinnert sich Süssmuth. Menschen aus dem Ausland und Einheimische sorgten für «kulturellen Austausch vor Ort».

Kunsthistoriker Koddenberg, selbst mit Christo und Jeanne-Claude befreundet und langjähriger Begleiter ihrer Projekte, beschreibt der dpa den Zeitgeist um «Wrapped Reichstag»: «Diese Wiederbelebung Berlins nach dem Fall der Mauer und der architektonische Trubel zogen Künstler und Kreative nach Berlin in den 90er Jahren. Da war der Reichstag einer der Bausteine, die dazu geführt haben.» Nach düsteren Jahrzehnten ein alu-glitzernder Grundstein für die wieder entstehende Weltmetropole.

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