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Pierre Lepori: “Queer-Anliegen, die auf Ungewissheit beruhen“

Poet, Theaterregisseur? Nicht wirklich: Pierre Lepori «macht Poesie, hat Lust auf Theaterprojekte». Unter anderem. Sein Schwerpunkt? «Ich schreibe.»

Agentur
sda
12.07.19 - 09:02 Uhr
Kultur
Pierre Lepori macht Poesie, hat Lust auf Theaterprojekte. Unter anderem. Vor allem aber schreibt er.
Pierre Lepori macht Poesie, hat Lust auf Theaterprojekte. Unter anderem. Vor allem aber schreibt er.
Keystone/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Gegen den Strom, Pierre Lepori? Vielleicht eher: gleichgültig gegenüber jeder Strömung. «Ich verbiete mir nichts», sagt er. Versuchen wir dennoch, den Nicht-Kategorisierbaren zu identifizieren: Theaterhistoriker, Journalist, Autor von Gedichtbänden, Essays und Romanen, Animator von Zeitschriften, Übersetzer, Videofilmer.

Mit fünfzig ergänzt er sein Studium der Literatur und seine Promotion in Theaterwissenschaften um die Ausbildung zum Theaterregisseur und gründet die Theatertruppe «Tome Trois».

All dies und noch viel mehr erzählt er in einem Coworking-Atelier, berufliches Lausanner Pied-à-terre des Besitzers eines ehemaligen Bahnhofs in Sciernes d«Albeuve, zwischen Greyerz (FR) und dem Pays d»En-haut (VD). Erstaunlich für einen Tessiner, der in Manno bei Lugano und in Tengia bei Faido aufgewachsen ist.

An beiden Orten hatte er als Kind die ersten Bühnenauftritte in eigenen Theaterstücken. «Schrecklich dösige und etwas blutrünstige Szenen, wo zum Schluss alle starben.» Mitspielen liess er seine beiden Schwestern, die eine heute Sozialarbeiterin, die andere Geschichtslehrerin. Der ältere Bruder ist Mathematiker. Pierre, Nummer drei, krank und schwächlich als Kind, wurde zum kreativen, nonkonformen Element der Familie - und brauchte Zeit, (sich) seine Homosexualität einzugestehen.

Hang zu den Künsten

Erst als Student in Florenz und Siena hat Lepori das als Teil seiner Person akzeptiert, was im Tessin völlig tabu war und jetzt fest mit seinem Hang zu den Künsten verbunden ist. Künste, die seinem Vater, Kaffeeröster, dann Dorfsekretär, ebenso fernlagen wie seiner Mutter aus den Marche - einer grossen Leserin.

Der mehrsprachig Unvorhersehbare reihte ein Projekt ans andere. Studium in Florenz und Siena - sechs Jahre Entfaltung -, Doktorand in Bern, verantwortlich für den italienischsprachigen Teil des «Theaterlexikons der Schweiz». Ab 1997 Kulturkorrespondent des Tessiner Radios in Lausanne, Arbeit für Espace 2, für die Webseite culturactif und die Zeitschriften «Feuxcroisés» und «Viceversa Letteratura», dann Begründer der Zeitschrift «Hétérographe», die 2009 bis 2013 erschien.

Er übersetzte Monique Laederach, Gustave Roud und Claude Ponti auf Italienisch, Luigi Pirandello und Leopoldo Lonati auf Französisch, ebenso einen gewissen - Pierre Lepori - ein Fall von Selbstübersetzung, Stoff für die universitäre Forschung.

Schreiben! Was er von zehn bis fünfunddreissig Jahr produzierte, wird unveröffentlicht bleiben. «Nicht zu retten, diese homoerotischen Werke eines armen Teenagers, der nicht wusste, wohin mit sich, und in Reimen schrieb.» Er begann 2003 zu publizieren, denkt heute, er habe das nur geschafft, weil er in Lausanne war, liiert mit einem Schriftsteller.

Die Gedichte in «Qualunque sia il nome» (Casagrande, 2003), Schillerpreis 2004, sagen «ohne Tabu, ohne Hindernis», was er zu sagen hat. Das greift er 2018 mit «Quasi Amore» wieder auf. Eine Frage der Identität? Nein: «Nichts widerspricht mir mehr. Identität trennt, Zugehörigkeit eint.»

Mehrfachzugehörigkeit

Pierre Lepori definiert sich durch Mehrfachzugehörigkeit. Und seine Wurzeln: das Tessin, seine Berge und Seen; die Marche und Venetien (durch die Eltern der Mutter); Frankreich auch, durch seinen Vornamen. Der stammt vom Grossvater väterlicherseits, bei Besançon geboren, wohin seine Familie ausgewandert war, um später wieder ins Tessin heimzukehren.

Die Zugehörigkeiten? Zu den Homosexuellen, geeint durch die Geschichte ihrer Verfolgungen. Zur Welt des Theaters, zu jener der Schriftsteller. Zu zwei Sprachen: «Ich kam in die französische Sprache, so weit, dass ich in ihr schreibe und gar wie Ramuz das Recht beanspruche, 'schlecht zu schreiben'.» Nicht aus stilistischer Koketterie, sondern um mehr auszudrücken: «Ich beherrsche sie nicht voll und dieser Mangel bringt anderes hervor.»

Zugehörigkeit also zu französischsprachigen Autoren, vor allem zu «Autoren zwischen den Sprachen wie Cioran, Wolfson, Andréas Becker».

An erster Stelle aber steht die italienische Sprache: «Das ist mein Zuhause, mein Innerstes, das Italienisch von Gadda und Folengo, das Dialekte und Soziolekte mit enormer Geschmeidigkeit in sich vereint.» Sogar seine Bilder bezieht er aus der Sprache: Als Kind hörte er oft Hörspiele und schuf sich «eine Kultur mit diesen Klängen im Dunkeln».

Deftige Themen

Seine Themen sind deftig. Die Romane, «Grisù» (2007), «Sessualità - Sexualité - Sexualität», dreisprachig in drei Verlagen (2011), «Come cani», sein liebstes Buch (2015), und «Nuit américaine» (2018) haben alle dunkle, verunsichernde Sujets, handeln vom konfliktreichen Begegnen oder Wiederfinden, von der Qual des Vergangenen, von der Angst vor der Gegenwart.

Herausfordernd ist auch das CD-Album «Klaus Nomi Projekt» (2019) mit dem Schauspieler Cedric Leproust, der Musik von Marc Berman, den Zeichnungen von Albertine und einem Vorwort von Cathy Ytak.

Jedes Buch geht die Schattenzonen auf eigene Weise an, aber eines eint sie: Lepori wehrt sich gegen jeden identitären Naturalismus: «Wir sind aus vielen Strängen gestrickt, nicht Blöcke aus einem Stück. Ich vertrete Queer-Anliegen, die auf Unsicherheit, Vorantasten beruhen.»

Das Schwanken, die Unbestimmtheit, die den Leser/Zuschauer/Zuhörer zur Teilnahme zwingt, findet man auch in Leporis Video-Poesie «Quasi amore» auf pierrelepori.com. Die Bildebenen überschneiden sich, das Ganze ist sinnlich, erotisch, anspielungsreich und flüchtig. Lepori bewundert die Arbeiten von Angela Ricci Lucchi und Yervant Gianikian, sieht sich aber nicht als Avantgardisten, weist das Etikett des «disruptiven Häretikers» von sich.

Natürlich hinterfragt und stört er gerne. So bildet «La Nuit américaine» „eine Schlaufe, weil alles, was erst gesagt und gezeigt wird, eine zweite Ebene verbirgt, die am Ende hervorkommt und dazu zwingt, noch mal von vorn zu beginnen". Das funktioniert besser im Theater, dort will Lepori, dass die Zuschauer den Halt verlieren, um sich am Ende wieder zu finden.

Von Ideen zu Projekten

Im spontanen Dank zeigt er weitere Zugehörigkeiten: zum «wahrhaften Verleger» Jean Richard der Editions d'en bas, zum Mentor Jacques Derrida, dem er beim Immer-wieder-Lesen «literarische und poetische Geistesblitze» verdankt, zur literarischen Patin Monique Laederach, von der ihm aus einer fast amourösen Beziehung im täglichen Briefwechsel zweitausend Briefe geblieben sind. Er hat ihre Gedichte auf Italienisch übersetzt, sie und Fabio Pusterla haben ihn ermutigt, seine eigenen zu veröffentlichen.

Der Psychiater Didier Anzieu schliesslich hat ihn mit dem Konzept der «Moi-Peau» veranlasst, seine Übersetzung von «Grisù» mit «Sans peau» zu betiteln. Und plötzlich sieht er sich selbst als «Moi-Peau»: «Die Dynamik des Schreibens besteht darin, eine Haut um dieses Übersprudeln zu bilden, das sonst ganz diffus bliebe.» Schreiben, um sich eine Fassung zu geben.

So schreitet Pierre Lepori voran, von Ideen zu Projekten, allein oder im Team, von wilden Intuitionen, durch sein vernünftiges Selbst geordnet und gereift, bis zur Realisierung und zur Pflege des kleinsten Details, wie zum Beispiel die Samthülle der CD des Klaus-Nomi-Projekts.

Eine nächste Herausforderung wäre eine «Traviata» als Drag-queen aus den 1970er Jahren. Später! Nach zwei Monaten in Montreal - für ein neues Buch natürlich. Und nach einem Essay, zu Pirandello. Dieses kreative Übersprudeln, das in eine schöne, solide Haut zu kleiden ist!

Text: Jacques Poget

Übersetzung: Daniel Rothenbühler

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