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Der Tradition eine Dimension hinzufügen

Skulpturen aus Linien, die kein Ende haben: In ihren Werken greift Ayushi Shriramwar eine indische Tradition auf. Mit Gips, Draht und leuchtenden Farbpigmenten wandelt sie sie zu eigenständigen Gebilden. Die Stipendiatin hat im Kunstzeughaus die Schlussarbeiten ihres Aufenthalts in Rapperswil-Jona präsentiert.

Linth-Zeitung
02.11.18 - 04:30 Uhr
Kultur

von Hannah Scharnagl

Ein Willkommensgruss ohne Worte, schlangenförmige Linien, Muster, die wiederkehren, aber nie gleich sind – fast wie Poesie kommen die Skulpturen der jungen indischen Künstlerin Ayushi Shriramwar daher, die sie am Mittwochabend an ihrer Vernissage im Kunstzeughaus präsentiert. Sie sind das Ergebnis ihres Aufenthalts in Rapperswil-Jona. Im Rahmen des Kunststipendien-Programms der Stiftung Futur lebte und arbeitete sie drei Monate lang in der Schweiz. Begleitet wurde sie von Künstlerin und Mentorin Hedi K. Ernst.

Die 22-Jährige, die ihr Heimatland zuvor noch nie verlassen hat, kann es noch gar nicht fassen, dass die Vernissage ihrer Werke tatsächlich stattfindet. «In einer Woche werden mich dann alle Emotionen überkommen», sagt die junge Künstlerin und lacht dabei.

Ein indisches Willkommen

In ihrer Ausstellung greift Shriramwar eine indische Tradition auf. Das Kolam ist ein Muster, das indische Frauen mit Pigmentpulver als Willkommensgruss vor ihre Häuser zeichnen. Sie folgen einem immer ähnlichen Muster, bei dem eine Linie um vorgegebene Punkte gezogen wird, sich in kunstvollen Schlaufen windet und am Ende mit dem Startpunkt verbunden wird. Trotz der Übereinstimmungen sehen die Willkommensgrüsse immer anders aus. Shriramwar greift das in ihren Werken auf, doch sie fügt den raffinierten Zeichnungen eine Dimension hinzu. Mit Draht, Gips und leuchtenden Farbpigmenten, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hat, formt sie diese traditionellen Muster zu Skulpturen – einmal sind sie aufeinandergestapelt, einmal bilden sie eine Kuppel, ein anderes Mal erkennt man sie kaum wieder.

Tradition weiterentwickeln

«Die Bedeutung dieser Zeichnungen beinhaltet ein sehr tiefes Verständnis für Geometrie und die Unendlichkeit des Universums», sagt Shriramwar. «Es ist eine fortlaufende Zeichnung, die kein Ende hat und sich selbst wieder am Anfang trifft – ganz wie das Leben.» Sie wählte die Linie, um die Idee von Heimat, Erinnerung und Zugehörigkeit zu erkunden. Dabei begann sie mit den Formen und Mustern ihrer Heimat und entwickelte sie weiter, abstrahierte sie.

So zum Beispiel bei einer Skulptur, die von Weitem aussieht wie eine grosse, pinke Blüte. Bei näherem Hinsehen entdeckt der Betrachter jedoch, dass Shriramwar zuerst die Kolam-Muster formte und dann ineinander verflocht. So schafft sie etwas Neues in der Tradition, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen. Sie heisst ihre Besucher willkommen. Sie will sie mitnehmen in ihre Welt, die nicht nur in ihrer Kultur besteht, sondern eine, die sie sich zu eigen gemacht hat.

«Vollkommene Freiheit»

Doch warum beschäftigt sich die junge Künstlerin gerade zu dem Zeitpunkt mit ihrer Heimat, an dem sie ein Vierteljahr in einem fremden Land ist? «Ich habe in den drei Monaten sehr viel gelernt – und sehr viel verlernt.» Es ist das erste Mal, dass sie ausserhalb ihres Heimatlandes sei, jetzt habe sie eine ganz besondere Beziehung dazu. Die Perspektive sei eine andere geworden. In Indien sei sie in ihrem Kunstschaffen immer eingeschränkt gewesen. Es gälten dort strengere Konventionen im Herangehen an Kunst. Für Shriramwar ist klar: «Hier hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben vollkommene Freiheit.»

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