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Kleine Bühne, grosses Theater Teil 3

Nach anfänglicher Euphorie lässt die Theaterbegeisterung der Churer im Jahr 1947 spürbar nach. Direktor Hans Curjel erntet mit seinem Programm zwar noch Bewunderung, kommt aber zusehends in Geldnöte. Vom Auftrag an Bertolt Brecht, der in Chur inszenieren soll, erhofft sich Curjel eine Wende zum Guten.

Südostschweiz
26.08.18 - 04:30 Uhr
Kultur

von Carsten Michels

Als der Theaterdirektor am Morgen des 3. Januar 1948 das «Bündner Tagblatt» aufschlug, wird er die Stirn gerunzelt haben. Zwar kündigte die Zeitung erfreulicherweise noch einmal die Premiere von Carl Zuckmayers «Des Teufels General» vom nächsten Tag an. Und auch auf die Uraufführung von Bertolt Brechts «Antigone» wenige Wochen später wies das Blatt hin – ja, insgesamt auf den «sorgfältig abgewogenen Spielplan», der «wirklich Gewähr für ein hohes künstlerisches Niveau» biete.

Doch Hans Curjel konnte zwischen den Zeilen lesen. «Wir hoffen, dass sich nun im Laufe dieser Saison auch Gelegenheit bieten wird, in Chur bestbekannte ‹einheimische› Kräfte in Gastspielen zu sehen», schrieb «Tagblatt»-Redaktor Andreas Brügger und lieferte seine Schauspielerwunschliste gleich mit. «Wir denken dabei namentlich an Marga Lendi, das talentierte Enkelkind unserer langjährigen Theaterdirektorin Frau Senges-Faust.» Es folgten die Namen Herta Gara und Melanie Münzner.

Was wollten diese Churer bloss?

Was bildete sich dieser Brügger eigentlich ein? Hatte er, Curjel, solche «Ratschläge» nötig – er, der Gründer und Leiter der erfolgreichen Theater- und Tournée-Genossenschaft Zürich und nun schon seit zwei Jahren Direktor am Churer Stadttheater? Curjel wird an jenem Tag tief geseufzt haben. Was wollten diese Churer bloss? Zuckmayers Stück war hochaktuell, zeitgenössische Dramatik vom Besten.

Die Verhältnisse in der Bündner Kantonshauptstadt waren aber auch kompliziert. Zwei Jahre zuvor war Curjel überaus wohlwollend aufgenommen worden. Obwohl das Churer Publikum, wie er wusste, den Rückzug von Minna Senges-Faust noch immer bedauerte. Schweren Herzens hatte es 1945 Abschied genommen von der 77-jährigen Theaterprinzipalin, die standesgemäss – und passend zu ihrem Mädchennamen – mit Goethes «Faust» von der Bühne im Rätushof abgetreten war.

Frühling im «Kuriosum»

Curjel überraschte die Bündner mit einem engagierten Programm. Zwar bot er weiterhin die beliebten Lustspiele, Bühnenklassiker und hin und wieder auch ein Dialektstück. Aber als ehemaliger Dramaturg, Regisseur und stellvertretender Direktor der Berliner Krolloper war er schon vor seiner Emigration in die Schweiz mit den innovativsten Theaterleuten seiner Zeit in Kontakt gekommen. Manche von ihnen traf er in Zürich wieder, wo er als Oberspielleiter am Corso-Theater seine avantgardistische Arbeit fortsetzte. Beispielsweise verpflichtete er den Künstler Max Ernst – als Bühnenbildner für Varieté-Nummern.

Das exquisite Netzwerk Curjels war weiter gewachsen, seit er 1942 die Theater- und Tournée-Genossenschaft Zürich gegründet hatte. Schauspielgrössen wie Brigitte Horney und Therese Giehse oder Publikumslieblinge wie Hans Moser und Walter Roderer standen bei Curjel unter Vertrag – Horney und Roderer holte er schliesslich auch nach Graubünden.

Frische Ideen und Mut zu Neuem

Seine erste Spielzeit hätte kaum besser laufen können. Die Mischung aus Eigenproduktionen und Gastspielen kam an, das Ensemble begeisterte. In Chur ebenso wie in Arosa und St. Moritz, wohin die Truppe zu Gastauftritten fuhr. Clever hatte Curjel einige Mitglieder der Senges-Faust-Truppe übernommen, grosse Namen von auswärts verpflichtet und junge talentierte Schauspieler und Schauspielerinnen dazugewonnen – allen voran Valeria Steinmann und Hans Gaugler. Curjels Trumpfkarte jedoch war Regisseur Vasa Hochmann, der mit frischen Ideen und Mut zu Neuem den Bühnenstaub zum Rätushof hinausfegte.

Die Bündner Kritiker liefen sich warm – nicht nur Brügger vom «Tagblatt», auch seine Kollegen vom «Freien Rätier» und der «Neuen Bündner Zeitung». Insbesondere seit Curjels Programm in der übrigen deutschschweizerischen Presse Beachtung fand. Das war man hier nicht gewohnt. Der Zürcher «Tages-Anzeiger» schrieb ausführlich über «die von ihrem Theater begeisterten Churer» und titelte respektvoll «Grosses Theater in einer kleinen Stadt». Der Berner «Bund» prägte das Wort vom «Theaterfrühling in Chur», die «Weltwoche» den Begriff vom «Kulturkuriosum».

Bis zum Beginn von Curjels zweiter Spielzeit war ernsthaft die Rede davon, dem Stadttheater ein eigenes Haus zur Verfügung zu stellen. Die Politiker hatten wohl eingesehen, dass der Rätushofsaal, den sich Theater und Kino seit etlichen Jahren teilten, als städtische Bühne allmählich ausgedient hatte. Die neu gegründete Theatergenossenschaft schlug als Standort die von einem Park umgebene Villa Caflisch am Postplatz vor. Die Stadtväter zeigten sich interessiert. Plötzlich konnte man sich im Sommer 1946 ein künftiges «Theater-, Kongress- und Konzertzentrum» inmitten der Parkanlage vorstellen, ein Haus mit Ausstrahlung in die gesamte Ostschweiz.

Eine saftige Mieterhöhung

Und nun das: Brüggers Mahnung durch die Blume im «Tagblatt». Curjel wusste am jenem Januarmorgen 1948 bereits, dass sich der Wind in Chur längst gedreht hatte. Auf fatale Weise war er Opfer seines eigenen Erfolgs geworden. Nach dem – auch finanziell – furiosen Neubeginn sah sich Curjel monetären Begehrlichkeiten ausgesetzt: Die Besitzerin des Rätushofs erhöhte die Saalmiete von 4000 Franken jährlich auf knapp 10 000. Und die Mitglieder des Churer Ensembles, die für den wundersamen «Theaterfrühling» gesorgt hatten, erhielten lukrative Angebote von grossen Häusern im Unterland, sogar aus Deutschland. Brigitte Horney ging ans Stadttheater Basel, Regisseur Vasa Hochmann nach Göttingen, Mannheim und bald darauf ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg.

Curjel muss mit den Fingern getrommelt haben. In wenigen Tagen würden Brecht und sein Bühnenbildner Caspar Neher nach Chur kommen, um mit den Proben zur «Antigone» zu beginnen. Beide kannte er noch aus Berliner Zeiten. Alte Weggefährten von vor dem Krieg. Ob die beiden ahnten, dass sie hier nun ein Kleinkrieg erwarten würde?

Die Artikelserie «Kleine Bühne, grosses Theater» beleuchtet das «Theaterwunder» von Chur. Sie erscheint anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums der Churer «Antigone»-Inszenierung von Bertolt Brecht im Jahr 1948.

Das Festival «Brecht!/BB18» steht in den Startlöchern

Zum 70-Jahr-Jubiläum der Brecht-Inszenierung in Chur stehen Spätsommer und Herbst ganz im Zeichen des Festivals «Brecht!/-BB18». Den Auftakt dazu machen am Donnerstag, 30. August, um 20 Uhr die Freilicht-spiele Chur. «Radio Lukullus» heisst ihre Produktion. Sie erinnert an die Umstände der Ursendung von Brechts Hörspiel «Das Verhör des Lukullus» im Jahr 1940. Damals hatte Radio Beromünster das Hörstück gesendet – ohne Absprache mit der Radiodirektion. Am Freilichtspiel wirken unter anderen Meret Hottinger, Ursina Hartmann und Christian Sprecher mit. Regie führt Julian M. Grünthal. Treffpunkt für die Aufführungen ist der Churer Stadtpark. «Radio Lukullus» wird bis zum 15. September gezeigt. Tickets online unter freilichtspiele-chur.ch. (cmi)

 

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