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Olgiatis Leitfaden für eine neue Architekturepoche

Zusammen mit dem Architekturtheoretiker Markus Breitschmid legt der Flimser Architekt Valerio Olgiati ein Traktat zur zeitgenössischen Architektur vor. Im Buch «Nicht-Referenzielle Architektur» plädieren die beiden für ein Umdenken der Architekturszene.

Valerio
Gerstlauer
08.08.18 - 18:13 Uhr
Kultur
Die Zäsur im Blick: Aus Sicht von Valerio Olgiati leben wir heute in einer nicht-referenziellen Welt.
Die Zäsur im Blick: Aus Sicht von Valerio Olgiati leben wir heute in einer nicht-referenziellen Welt.
YANIK BÜRKLI

Nichts Geringeres als eine neue Menschheitsepoche rufen der Flimser Architekturstar Valerio Olgiati und der Architekturtheoretiker Markus Breitschmid in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Nicht-Referenzielle Architektur» aus. In ihren Augen leben wir seit rund 20 Jahren in einer nicht-referenziellen Welt. Die Gesellschaft funktioniere heute zum ersten Mal in der Geschichte auch ohne ein grundlegendes Verständnis von kulturellen und historischen Beziehungen, schreiben die beiden. «Die nicht-referenzielle Welt verlangt von jedermann, dass er sich immer wieder aufs Neue mit ihr in Einklang bringt, da keinerlei feststehende Bedeutungen mehr existieren.»

Die Postmoderne mit ihrem multikulturellen Ideal betrachten Olgiati und Breitschmid als beendet. «Dieses Gesellschaftsmodell einer geordneten Koexistenz der Werte siecht rasend schnell dahin, wenn es nicht schon ausgestorben ist.» In der heutigen, nicht-referenziellen Welt hingegen würden sich die gesellschaftlichen Ziele ausdifferenzieren in Entsprechung zur Fülle an Individuen und Gruppen mit vollkommen unterschiedlichen, absolut unvereinbaren Interessen. «In der nicht-referenziellen Welt haben wir keine gemeinsamen ‘Projekte’ oder ‘Programme’ mehr wie noch aus voller Überzeugung zu Zeiten der Moderne und mit einem kritischen Unterton in der Postmoderne.»

«Sinn nur aus sich selbst»

Olgiati und Breitschmid fordern aufgrund dieser Gesellschaftsanalyse ein Umdenken der Architekten, an die das Buch adressiert ist. Denn in einer nicht-referenziellen Welt muss auch die Architektur nicht-referenziell sein. So erklären sie: «Auch wenn der Architektur unweigerlich immer eine soziale Aufgabe zukommt, lassen sich Gebäude nicht mehr ausgehend von einem gemeinsamen sozialen Ideal entwickeln – vor allem nicht unmittelbar, denn keines dieser gemeinsamen gesellschaftlichen Ideale, das uns in der Vergangenheit verbunden haben mag, hat in der Gegenwart Bestand.» Im Gegensatz zu den Gebäuden der Vergangenheit, die eine Verkörperung gemeinsamer sozialer Ideale dargestellt hätten, beziehe ein nicht-referenzielles Gebäude seine Bedeutung, seinen Sinn nur aus sich selbst.

In den nachfolgenden Kapiteln liefern die Autoren eine Anleitung zur nicht-referenziellen Architektur. Als ein massgebendes Prinzip nennen Olgiati und Breitschmid beispielsweise die Neuheit. «Wir sind absolut der Meinung, dass Architektur nach Neuheit streben muss», schreiben sie. Nur ein neuartiges Gebäude vermöge es, die Vorstellungskraft der Menschen zu stimulieren und zu fesseln.

Obschon sich Olgiati und Breitschmid mit ihrem Buch an die Architektenzunft richten, lohnt sich die Lektüre auch für Architekturinteressierte. Allein was die beiden zur Raumerfahrung und damit zur Raumkonstellation von Gebäuden zu sagen haben, kann als veritabler Augenöffner bezeichnet werden.

 

Valerio Gerstlauer ist Leiter des Ressorts Entertainment & Kultur. Er arbeitet als Kulturredaktor vornehmlich für die Zeitung «Südostschweiz» und die Website «suedostschweiz.ch». Ausserdem ist er einmal in der Woche in der Sendung «Kulturtipp» auf Radio Südostschweiz zu hören. Mehr Infos

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