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«Die Zuschauer meinten, ich wolle sie töten»

Vor 100 Jahren erlebte St. Moritz einen verstörenden Auftritt, der Ballettgeschichte schrieb. Der Tanz in den Wahnsinn des Vaclaw Nijinski wird von Origen jetzt gleich mehrfach aufgegriffen.

Südostschweiz
12.07.18 - 02:00 Uhr
Kultur
Tanzlegenden damals und heute: Die typischen Bewegungen Vaslaw Nijinskis (hier  1916 als Faun mit Flore Revalles ) werden in der St. Moritzer Reithalle nachempfunden von Star-Tänzer Sergei Polunin und der Choreografin Yuka Oishi.  Bilder Karl Struss (Arch
Tanzlegenden damals und heute: Die typischen Bewegungen Vaslaw Nijinskis (hier 1916 als Faun mit Flore Revalles ) werden in der St. Moritzer Reithalle nachempfunden von Star-Tänzer Sergei Polunin und der Choreografin Yuka Oishi. Bilder Karl Struss (Arch

Es ist Origens Russlandjahr, und weil das Bündner Kulturfestival über weite Strecken ein Ballettfestival ist, kommt man natürlich an einem nicht vorbei: Vaslaw Nijinski. Er war der Jahrhunderttänzer, ein Ausnahmekünstler, der mit der berühmten Kompanie Ballets Russes von St. Petersburg auszog, um die Welt des Balletts aus den Angeln zu heben. Nijinski hatte eine fulminante Karriere in einer aufregenden Zeit, und ausgerechnet in St. Moritz kam sie zu ihrem Höhepunkt und abrupten Stillstand.

Nijinski gilt als der grosse Erneuerer des Bühnentanzes, war Teil des russischen Kulturexports, der in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in den Zentren Europa stilbildend wurde. Zu vermitteln, dass damals aus Russland keine dumpfe Bedrohung kam, sondern vielmehr die künstlerische Avantgarde, liegt dem Origen-Intendanten Giovanni Netzer besonders am Herzen.

Der letzte Tanz

Es sind jetzt fast genau 100 Jahre her. Im Ballsaal des Hotels «Suvretta House» in St. Moritz warteten am 19. Januar 1919 rund 200 geladene Gäste auf den Privatauftritt des sagenumwobenen Tanzgenies. Doch Nijinski setzte sich zuerst auf einen Stuhl und starrte fast eine halbe Stunde lang ins Publikum. Dann erhob er sich. Er sagte, er tanze nun den Krieg, «den Sie nicht verhindert haben». Und setzte an zu einer rauschhaften Darbietung, meisterlich zwar, aber zutiefst verstörend.

Aus Nijinskis Tagebuchaufzeichnungen wissen wir, dass er sich selbst sehr wohl bewusst war, was er den Leuten zumutete. «Sie hatten alle Angst vor mir. Die Zuschauer meinten, ich wolle sie töten. Doch ich wollte niemanden töten.» Trotzdem galt dieser Tanz als der endgültige Nervenzusammenbruch des Künstlers. Es begann ein jahrzehntelanger Weg durch die Psychiatrie, den Nijinski hauptsächlich in Schweizer Sanatorien verbrachte. Erst ab 1945 konnte er, betreut von seiner ungarischen Ehefrau, in London ein einigermassen normales Leben führen. Er lebte nach dem Vorfall von St. Moritz noch 30 Jahre, doch er tanzte nie mehr.

Netzer war die Nijinski-Geschichte schon lange vorher vertraut. Denn dessen Schicksal fasziniert bis heute viele Ballettmacher. Mit dem grossen John Neumeier, der im Jahr 2000 seinen «Nijinsky» in Hamburg auf die Bühne brachte, war Netzer einst nach St. Moritz ins «Suvretta» gereist, da-mit dieser den Ort des Geschehens in sich aufnehme.

Doch das St. Moritzer Luxushotel riss den Saal kurz danach ab. Die drei Ballettproduktionen, die sich jetzt um den historischen Tänzer drehen, finden deshalb zwar in St. Moritz statt, aber in ei-nem sehr speziellen Provisorium: in der eigentlich abbruchreifen Reithalle. Mit Spannung erwartet wird vor allem der Auftritt Sergei Polunins, der schon selbst eine Legende des Balletts ist. Er tanzt – allein – ein neues «Sacré du Printemps», das Werk, mit dem Strawinski und Nijinski 1913 einen solchen Skandal ausgelöst hatten.

Origens Engadiner Tanzsommer. «Unsound» und «Closeness» Samstag, 14. Juli, Sonntag, 15. Juli, Sonntag, 22. Juli, 15 Uhr.
«Sacré» und «Paradox» Samstag, 14. Juli, Sonntag, 15. Juli, Mittwoch, 18. Juli, Donnerstag, 19. Juli, 19.30 Uhr.
«The Rite» Freitag, 27. Juli, Dienstag, 31. Juli, Samstag, 4. August, 19.30 Uhr, Sonntag, 29. Juli, 16.30 Uhr.
Reithalle St. Moritz Bad.

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