Von Duisburg nach Graubünden: Eine Liebesgeschichte über sechs Jahrzehnte
Winfried und Marianne Slembeck sind in Duisburg aufgewachsen. Ein Stellenangebot führte das Ehepaar nach Graubünden. Das ist die neunte Folge der Serie «Herzensgschichta us Graubünda».
Winfried und Marianne Slembeck sind in Duisburg aufgewachsen. Ein Stellenangebot führte das Ehepaar nach Graubünden. Das ist die neunte Folge der Serie «Herzensgschichta us Graubünda».
Heute lebt der 91-jährige Winfried Slembeck allein in einer modernen Wohnung in Haldenstein. Seine Frau ist vor rund einem Jahr verstorben. Am Küchentisch sitzend, lächelt er und sagt gleich zu Beginn: «Mit mir müssen Sie kein Hochdeutsch sprechen, ich verstehe Schweizerdeutsch.» Er lacht. «Aber ich weiss, das ist so ein Automatismus bei den Schweizern, wohl aus Höflichkeit.» Sein Humor und seine warmherzige, offene Art fallen sofort auf.
Neben ihm liegen sorgfältig geordnete Dokumente – Familiengeschichten, die er über viele Jahre gesammelt und aufgeschrieben hat. Alles, was ihm Einfällt oder was er recherchiert hat, hält er fest. Diese Aufzeichnungen bedeuten ihm viel – ebenso wie das grosse Porträt seiner verstorbenen Frau Marianne, das er immer wieder liebevoll betrachtet.
Wann haben Sie Ihre Frau kennengelernt?
Während der Schulzeit. Wir lebten im selben Ort und besuchten die gleiche Mittelschule in Duisburg-Hamborn. Wir gehören dem gleichen Jahrgang an und sie war in der Parallelklasse. Damals gab es noch getrennte Klassen für Jungen und Mädchen. Gegen Ende der Schulzeit organisierten die Lehrkräfte einen Tanzkurs für uns. Gesellschaftstanz war ihnen allerdings zu heikel, da sie zu viel körperlichen Kontakt zwischen Jungen und Mädchen vermeiden wollten. Also mussten wir uns einem Volkstanz widmen, bei dem der nötige Abstand gewahrt wurde.
Als der Kurs beendet war und die Lehrpersonen nicht mehr dabei waren, machten wir einfach alleine weiter. Marianne konnte bereits Walzer tanzen. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich brachte ihr dann zu jedem Tanzabend Blumen mit. Geklaut aus dem Garten meines Vaters. So wurden wir ein Paar. Er lächelt
Wurden Sie dann ein Paar?
Nein. Nach der Schulzeit hatten wir einige Jahre keinen Kontakt. Aber wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns in der Strassenbahn wiedergesehen und standen danach längere Zeit im Briefkontakt. Wir verstanden uns einfach gut und teilten denselben Humor. Wir nahmen nicht alles allzu ernst und konnten viel miteinander lachen.
Haben Sie ihr einen Heiratsantrag gemacht?
Selbst das ist eine lustige Geschichte. Am Tag unserer Trauung – das war am 3. August 1962 – waren wir mit unseren Vätern essen. Sie waren unsere Trauzeugen. Ich fragte meinen Vater, wie das denn eigentlich so abläuft auf dem Standesamt. Er meinte, normalerweise sei man vorher verlobt. Erst da wurde mir klar, dass wir das gar nicht waren. Also holte ich meinen Ring aus der Brusttasche und rollte ihn über den Tisch zu Marianne hinüber. Sie lachte – und machte genau dasselbe in meine Richtung. So waren wir also doch noch verlobt: direkt vor der Heirat. Er lacht
Auch auf dem Standesamt hatten wir es sehr lustig miteinander. Ich glaube, unseren Vätern war das stellenweise etwas unangenehm. Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Standesbeamte mich fragte: «Sind Sie bereit, die gegenwärtige Marianne Josefa Przybylski zu heiraten?» Da musste ich laut loslachen. Ich hatte vorher gar nicht gewusst, dass sie Josefa mit zweitem Namen hiess. Und als sie gefragt wurde, «ob sie den gegenwärtigen Winfried August Slembeck heiraten will», brach auch sie in schallendes Lachen aus, denn auch sie kannte meinen zweiten Vornamen nicht.
Gab es danach eine grosse Feier?
Nein. Wir gingen anschliessend arbeiten. Und einen Monat später gab es noch eine kirchliche Trauung. Aber ebenfalls im kleinen Rahmen. Wir sind noch am selben Tag Richtung Griechenland aufgebrochen. Marianne und ich hatten zuvor unsere Arbeitsstellen gekündigt, obwohl sie als Buchhändlerin und ich als Architekt eigentlich gut abgesichert waren. Aber wir wollten unbedingt drei Monate durch Griechenland reisen. Wir wussten: Das werden die Ferien unseres Lebens sein. Unsere Eltern hielten uns mit Sicherheit für etwas verrückt. Trotzdem haben wir es einfach gemacht. Mit dem Auto und einem Zwei-Mann-Zelt sind wir direkt nach der Trauung losgefahren.
An die Hochzeitsnacht erinnere ich mich aber noch sehr gut: Im Sauerland übernachteten wir in einem kleinen, eher bescheidenen Hotel. Und über dem Bett hing ein Heiligenbild. Wir haben kurzerhand ein Bettlaken darüber gehängt.
Wilfried Slembeck erzählt mit leuchtenden Augen von der dreimonatigen Reisen durch Griechenland. Davon, wie es war, zwischendurch bei Einheimischen zu leben und tief in deren Kultur einzutauchen. Noch heute erinnert er sich an die Namen ihrer griechischen Gastgeber. Lächelnd holt er ein altes Tagebuch hervor: Es ist voller handgeschriebener Einträge, Postkarten und herzlicher Grüsse von Freunden, die sie unterwegs gewonnen haben.
Wie ging es für Sie weiter nach dieser Reise?
Noch vor der Reise hatte ich eine Annonce in einer Fachzeitschrift entdeckt: In Baden wurde ein Architekt gesucht. Ich erkundigte mich, doch der Geschäftsführer bekam keine Arbeitsbewilligung für mich. Stattdessen schaltete er eine Anzeige in meinem Namen. Daraufhin erhielt ich 32 Stellenangebote, die mir in Paketen via Duisburg postlagernd nach Griechenland geschickt wurden. Zwölf davon beantwortete ich handschriftlich und kündigte an, Anfang Dezember zu Vorstellungsgesprächen in die Schweiz zu kommen. Die spannendste Option war für mich die Architekturfirma Brosi in Zürich. Sie suchte jedoch dringend jemanden für das Zweitbüro in Chur. Marianne und ich waren einverstanden, also zogen wir hierher. Meine ersten Baustellen waren das Schulhaus Montalin sowie die Fertigstellung der Turnhalle im Quaderschulhaus in Chur.
Ich wusste, dass die Sprache in der Schweiz etwas anders ist, aber man versteht sich trotzdem. Was mich jedoch überraschte, waren die mentalen Unterschiede – vor allem im Berufsleben. In Deutschland war ich es gewohnt, mich durchzusetzen. In der Schweiz hingegen sucht man in Konflikten meist nach Kompromissen. Das war für mich anfangs ungewohnt, aber auch lehrreich.
Was hat Ihnen an Ihrer Frau besonders gut gefallen?
Dass wir so viel miteinander lachen konnten. Sie hatte einen wunderbaren Humor. Ausserdem war sie offen, kontaktfreudig, und wir teilten den gleichen Geschmack, auch was das Einrichten unserer Wohnung anging. Es war immer schön, wie liebevoll sie mit Kerzen und Blumen dekorierte. Das hat unser Zuhause besonders gemacht. Wir empfingen auch gerne Besuch, genossen die Zeit mit Freunden und waren beide sehr unternehmungslustig. Und unser gemeinsames Hobby war das Tanzen.
War für Sie beide klar, dass Sie eine Familie gründen möchten?
Ja, selbstverständlich. Wozu hätten wir sonst geheiratet? Unser Sohn wurde 1963 im Spital Fontana geboren: einer der schönsten Momente unseres gemeinsamen Lebens. Wir hätten gerne noch mehr Kinder gehabt, doch leider blieb uns das Glück verwehrt. Marianne erlitt zwei oder drei Fehlgeburten, was für uns sehr schwierig und traurig war.
Sie gingen rund 60 Jahre einen gemeinsamen Weg. Gab es da manchmal auch Diskussionen?
In vielen Dingen waren wir uns schnell einig. Aber natürlich lief nicht immer alles nur schön und lustig. Im Alltag gab es durchaus auch Meinungsverschiedenheiten. Das ist nach so vielen Jahren wohl normal. Marianne fand es manchmal schwierig, wenn ich zu kompliziert über Dinge nachdachte. Und ja, vielleicht habe ich mich gelegentlich etwas mehr durchsetzen wollen als sie. Oft haben wir dann eine Nacht darüber geschlafen, und am nächsten Tag sah alles schon viel besser aus. Was ich aber sagen kann: Wir haben immer zusammengehalten.
Was ist Ihrer Ansicht nach das Rezept für eine langjährige, funktionierende Partnerschaft?
Man muss kontinuierlich daran arbeiten, füreinander sorgen und Verantwortung übernehmen. Wichtig ist auch, immer wieder nachzufragen, wie es dem anderen geht und was man für ihn oder sie tun kann.
Die Jahre bevor Ihre Frau verstorben ist, waren sicher nicht immer einfach für Sie.
Ja, durch ihre Krankheit war sie oft auf Hilfe angewiesen und musste viele Operationen durchstehen. Zum Glück hatten wir immer Unterstützung. Vor einem Jahr ist sie verstorben. Aber sie konnte zum Glück zu Hause sterben, ganz nah bei mir, an meiner Schulter.
Sie fehlt mir sehr. Einfach ihre Nähe, das Gespräch mit ihr, Antworten zu bekommen und Fragen stellen zu können. Manchmal fühle ich mich bei Entscheidungen unsicher und würde gerne ihre Meinung hören. Mein grösster Trost ist es, wenn ich über Marianne erzählen kann. Ich bin aus unserem gemeinsamen Haus in Trimmis hierher nach Haldenstein gezogen. Unser Sohn hat mich dabei sehr unterstützt. Dabei musste ich mich von vielen Dingen trennen, aber persönliche Gegenstände wie Fotos und Briefe habe ich sorgfältig sortiert und bewahre sie gut auf. Handschriftliche Briefe haben heute einen ganz besonderen Wert.
Was ich aber sagen möchte: Ich bin ein Glückskind. So viel Glück habe ich in meinem Leben gehabt, dass es für mehrere Leben gereicht hätte.
Haben auch Sie eine besondere Liebesgeschichte erlebt?
Dann melden Sie sich bei uns! Ob bewegend, überraschend oder einfach wunderschön – wir freuen uns über Ihre Geschichte.
karin.hobi@somedia.ch
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Bereits Abonnent? Dann schnell einloggen.