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Wann sichert ein Trainer nur, wann betatscht er ein Mädchen? Ein Ex-Spitzenturner aus Glarus erklärt

Der Glarner René Plüss ist Ausbildungschef beim Schweizer Turnverband. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie sich die Arbeit beim Turnverband nach Übergriffen im Sport verändert hat. 

Paul
Hösli
04.02.25 - 04:30 Uhr
Glarus
René Plüss gehört zu den erfolgreichsten Glarner Sportlern überhaupt. Der mittlerweile 57-jährige Kunstturner ist mehrfacher Schweizer Meister an verschiedenen Geräten und holte 1990 an den Europameisterschaften in Lausanne am Reck die Silbermedaille. Mit 26 Jahren hat er seine Aktivkarriere beendet. Der gebürtige Ennendaner arbeitet seit acht Jahren beim Schweizerischen Turnverband (STV) in Magglingen in einem 70-Prozent-Pensum als Ausbildungschef Kunstturnen Frauen.

In einem Artikel der Reihe zum 150-jährigen Jubiläum des Glarner Turnverbandes äusserte die Leiterin Kerstin Herger ihren Frust darüber, dass es tragisch sei, wenn man sich rechtfertigen müsse, dass man ein Kind zum Sichern festhalte. «Das Beachten aller Ethikrichtlinien macht alles streng, obwohl man nur helfen möchte», sagte Herger.

Für René Plüss als Ausbildungschef der Frauen hat neben der Wettkampfgestaltung und der sportlichen und persönlichen Förderung der Turnerinnen speziell der Schutz von Mädchen und Frauen vor Übergriffen höchste Priorität. In diversen Kursen mit Trainern, Leiterinnen und Sportlehrern werden die Teilnehmenden nach den angepassten Ethikregeln sensibilisiert. Der in Glarus wohnhafte Plüss erzählt im Interview, was der Schweizerische Turnverband alles unternimmt, damit sich Mädchen und Frauen beim Turnen sicher fühlen.

René Plüss, haben Sie Angst, dass einer Ihrer Trainer sich an einem Mädchen vergreift?

Angst ist ein schlechter Ratgeber. Dennoch muss man sich bewusst sein: Schwarze Schafe gibt es überall in der Gesellschaft, nicht nur im Sport. Dieses Bewusstsein wird auch in der Ausbildung geschärft und wir legen deshalb grossen Wert darauf, Trainerinnen und Trainer zu sensibilisieren. Der Schweizerische Turnverband nimmt dieses Thema sehr ernst.

2019 wurde in der Ostschweiz ein Trainer verurteilt, weil er eine 15-jährige Turnerin sexuell missbraucht hat. Wie nahe gehen Ihnen solche Fälle?

Es ist der Horror. Da dieser Fall in einem Regionalen Leistungszentrum geschah, ist der Verband nur indirekt beteiligt. Auch aus diesem Grund ist es ab diesem Jahr aber so, dass wir in den regionalen Zentren, heute Stützpunkte, mehr Einfluss nehmen dürfen und diese überprüfen werden.

Die Ethikrichtlinien im Turnsport wurden angepasst. Wie sehen diese aus?

Sehr vielschichtig. Der Hauptbestandteil bei der Ausbildung von Trainern liegt bei den ethischen Werten. Wir wollen einen gesunden und guten Unterricht gewährleisten. Im psychischen, physischen und emotionalen Bereich. Die Richtlinien basieren auf den Grundwerten von Respekt, Fairness, Sicherheit und Integrität. Sie dienen dazu, ein gesundes, sicheres und förderliches Umfeld für alle Beteiligten im Turnsport zu schaffen. Etwas vom Wichtigsten ist eine offene Kommunikation.

Wie sieht die Umsetzung aus?

In Magglingen zum Beispiel ist der Physiotherapeut nie allein mit der Athletin in einem Zimmer, sondern in der Halle, wo alle die beiden sehen können. Das entspricht auch dem Wunsch der Physios. Zudem ist es wichtig, dass wir mit den Eltern Gespräche suchen. In den Trainings wird zum Beispiel erklärt, warum ein Trainer nun die Athletin anfasst, und er fragt nach, ob das okay ist. Es gibt klare Richtlinien, wo die Athletin angefasst, respektive gehalten werden darf und wo nicht.

Hat viele Erfolge als Turner gefeiert: Rene Plüss am Pauschenpferd an der Kunstturn-EM 1990 in Lausanne, an welcher er am Reck die Silbermedaille gewann.
Hat viele Erfolge als Turner gefeiert: Rene Plüss am Pauschenpferd an der Kunstturn-EM 1990 in Lausanne, an welcher er am Reck die Silbermedaille gewann.
Archivbild Keystone

Wie sieht es mit Einzelgesprächen mit Athletinnen aus?

Das gibt es bei uns nicht, es sind immer mehrere Trainerinnen oder Trainer dabei. Ich hatte als Trainer einen Fall, da wollten zwei Athletinnen allein mit mir reden. Ich ging mit ihnen zum Haupteingang des Gebäudes, wo uns alle sehen konnten. Es ist nicht vorgesehen, dass ein Trainer allein in einem Raum mit einer Athletin ein Gespräch führt, das ist ein No-Go. Da würde ich sofort dazwischen gehen. Auch die gegenseitige Kontrolle unter den Trainerinnen und Trainern ist sehr wichtig. 

Wird heute allgemein viel mehr mit den Athletinnen und Athleten gesprochen als zu ihrer Zeit als Aktivturner?

Ja, es wird viel offener kommuniziert und das Geplante dargestellt. Als ich Trainer war, habe ich die Wettkampf- und Trainingsprogramme öffentlich ausgestellt. Jeder konnte es anschauen, Kinder und Eltern. Die Kinder haben auch ein Trainingsbüchlein geführt, wo sie etwa mit Smileys zeigen konnten, wie sie den Tag empfunden haben. So konnte ich erkennen, was ihnen gefiel oder an welchen Tagen sie schlecht drauf waren. Alle sechs Monate sind wir mit den Kindern und Eltern zusammengesessen und haben die Situation analysiert. Diese Art und Weise der offenen Kommunikation hat sich mittlerweile etabliert.

Das klingt zeitaufwendig, ist es heutzutage schwieriger, Trainer oder Leiterin zu sein?

Es ist aufwendig, aber diese Zeit muss man sich nehmen wollen. Das gehört als Trainerin oder Trainer dazu. Darauf werden sie aber auch schon in der Ausbildung vorbereitet.

Wird dem Verband durch die Anpassung der Ethikrichtlinien das Finden von Trainerinnen und Trainern erschwert?

Es ist wie beim Fachkräftemangel: Je höher die Anforderungen an ein Jobprofil sind, desto herausfordernder wird es, dafür Kandidatinnen und Kandidaten zu finden, die passen. Das merken wir auch. Es ist uns aber ein grosses Anliegen, da den Fokus zu setzen. Gerade weil uns diese Richtlinien eben wichtig sind.

Können Sie mögliche Kandidatinnen oder Kandidaten vor einer allfälligen Verpflichtung überprüfen?

Es gibt offizielle Stellen, wo ethische Verfehlungen aufgeführt sind. Beim STV machen wir vor der Anstellung entsprechende Checks. Inzwischen sind auch die regionalen Stützpunkte dazu verpflichtet. Natürlich kommt dann ein solcher Trainer oder eine solche Trainerin, die allfällige Verfehlungen begangen hat, nicht infrage. Gleichzeitig bedeutet ein unproblematischer Background-Check nie einen Persilschein.

Eine Leiterin aus dem Glarnerland hat Ihren Frust geäussert, dass man sich rechtfertigen müsse, wenn man ein Kind zur Sicherheit festhält. Bekommen Sie diesen Frust mit?

Nicht unbedingt Frust, aber halt Respekt davor, etwas Falsches zu machen. Ich bin aber überzeugt, dass, wenn es um Sicherheit geht, alle sehr froh sind, wenn zum richtigen Zeitpunkt adäquat eingegriffen oder unterstützt wird, um die Kinder vor Verletzungen zu schützen. Das ist auch nach wie vor nicht verboten und dafür muss man sich auch nicht rechtfertigen.

Zum Sichern der Turnerin: Der Trainer greift unter den Körper, falls es zu einem Sturz kommen sollte.
Zum Sichern der Turnerin: Der Trainer greift unter den Körper, falls es zu einem Sturz kommen sollte.
Bild STV

Wie gehen Sie mit dieser Herausforderung des Sicherns um?

Ich halte es immer so, dass ich frage, soll ich dich unterstützen, darf ich dir helfen, dich sichern und erkläre auch meine Vorgehensweise, wie ich halte. Ich gebe auch heute noch Kurse im Bereich des Schulsports, wo die Thematik auch ein wichtiger Bestandteil ist. Falls ein Kind nicht möchte, dass ich direkten Körperkontakt zur manuellen Absicherung habe, dann greife ich eben auf die Longe oder Sicherheitsgurte zurück. Leider können diese nicht überall eingesetzt werden, vor allem, wenn die Bewegungen ein wenig komplexer werden. Da braucht es immer noch den Trainer, der die Athletin sichert. Entweder mit den Händen oder mit Matten, womit der Sturz aufgefangen wird.

Wie hat sich die Methodik durch die angepassten Richtlinien verändert? Manchmal ist es unvermeidlich, eine Turnerin anzufassen, etwa bei einem Sturz.

Das ist der Grundsatz, welchen wir in der Ausbildung vermitteln. Es geht bei einer Berührung in jedem Fall um die Sicherheit des Athleten oder der Athletin. Das Halten oder Sichern ist die Devise. Fühlt sich jemand unwohl dabei, muss dies kommuniziert werden. Zum Abfedern des Sturzes greife ich als Trainer unter den Körper. Da dies schnell passiert, kann es durchaus geschehen, dass eine Brust angefasst wird. Dann gibt es nur eines: ansprechen und entschuldigen.

Ist das nicht genau diese Grauzone, welche das Ganze problematisch macht?

Nicht, wenn beide Seiten ein gesundes Bewusstsein dafür haben, warum es zu der Berührung kam und diese ausschliesslich im Zusammenhang mit der Sicherung der Athletin geschieht. Grauzonen gehören zum Sport und sind unvermeidlich, diese müssen deshalb transparent gestaltet und diskutiert werden. Ein Beispiel: Noch heute sieht man bei gewissen Trainern, dass sie den Athletinnen nach einer gelungenen Übung auf den Hintern tätscheln. Das geht natürlich überhaupt nicht und liegt nicht mehr in der Grauzone. Das ist mir ein Dorn im Auge.

Wie sieht es mit den Eltern der Athletinnen aus, äussern diese oft Bedenken bezüglich Übergriffen?

Teilweise. Meistens dann, wenn ein Trainingslager ansteht und die Kinder möglicherweise zum ersten Mal weg von zu Hause sind. 

Wie geht der Verband damit um?

Mit offener Kommunikation, die Eltern können jederzeit mit den Athletinnen telefonieren, ausser während der Trainingszeiten. Da werden die Trainer auch vom Verband unterstützt.

Auf Augenhöhe: Heutzutage ist das Vertrauen zwischen Trainerin und Athletin viel grösser als früher.
Auf Augenhöhe: Heutzutage ist das Vertrauen zwischen Trainerin und Athletin viel grösser als früher.
Bild STV

Wie wichtig ist das Vertrauensverhältnis im Vergleich zu früher zwischen Trainer und Athletin?

Es basiert viel mehr auf einer Beziehung auf Augenhöhe. Früher war es massiv distanzierter, vorne stand der Chef und klopfte auf den Tisch und sagte, das wird jetzt gemacht. Heute ist das gegenseitige Vertrauen grösser und es ist eine Beziehung auf Augenhöhe, die Turnerinnen haben viel mehr Freiraum. Damit soll auch die Selbstständigkeit der Jugendlichen gefördert werden. Und heute ist es so, dass die Turnerinnen erst ab 18 Jahren permanent nach Magglingen ins Leistungszentrum kommen, wir lassen sie zuvor in den Regionalen Leistungszentren, damit sie sich in ihrer gewohnten Umgebung entwickeln können.

Trotz aller Schwierigkeiten und Hürden, wie sehen Sie die Zukunft im Schweizer Turnsport?

Rosig, wir haben einige sehr talentierte Turnerinnen in unsere Reihen. Wir denken, dass wir auf einem guten Weg sind.

Die sechs Leitlinien von Swiss Olympic gegen sexuelle Übergriffe

Wissensmanagement: Wissen ist Voraussetzung, um in der Situation richtig zu handeln
Risikomanagement: Der Verein regelt Situationen rund um Trainings und Wettkämpfe, die ein Risiko für Gefährdungen bieten
Beteiligungsmanagement/Partizipation: Kinder und Jugendliche, die einbezogen werden und sich an Entscheiden beteiligen dürfen, sind eher bereit, sich in Krisen zu äussern
Meldemanagement: Alle Vereinsmitglieder wissen, an wen sie sich im Verein im Falle eines Verdachtes oder eines beobachteten oder erlebten Übergriffs wenden können
Krisenmanagement: Das Thema «sexuelle Übergriffe» ist zu jeder Zeit Führungsaufgabe. Die Vereinspräsidenten kennen ihre Verantwortung
Personalmanagement: Die Vereinsleitung vertritt eine klare Haltung in Bezug auf Übergriffe, wählt Personal entsprechend aus und schult es.

Paul Hösli ist Leiter Sport bei den «Glarner Nachrichten» in Ennenda. Er ist seit 1997 bei der «Südostschweiz», im Jahr 2013 wechselte er intern von der Druckvorstufe in die Redaktion. Zuerst in einem 40-Prozent-Pensum und seit 2016 zu 100 Prozent. Mehr Infos

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