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Glarner in Russland: Es läuft ein Putsch, doch wir müssen zu «Babuschka»

Der Besuch bei der «Babuschka» ist heilig. Das hielt den in St. Petersburg lebenden Glarner Eugen von Arb davon ab, beim Putschversuch des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin zu fliehen.

Südostschweiz
27.06.23 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Als sei nie etwas geschehen: In St. Petersburg deutet nichts auf den Putschversuch des Söldnerführers Prigoschin.
Als sei nie etwas geschehen: In St. Petersburg deutet nichts auf den Putschversuch des Söldnerführers Prigoschin.
Bild Eugen von Arb/Archiv

von Eugen von Arb*

Kleinkinder stellen unser Leben bisweilen ganz schön auf den Kopf, und das ist gut so – besonders in diesen düsteren Zeiten. Enrico heisst unser bestes Beruhigungsmittel. So auch am vergangenen Samstagmorgen, als wir uns überlegten, vor dem Putschversuch des berüchtigten Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin zu fliehen, der mit seinem Heer auf dem Weg nach Moskau war und drohte, einen Bürgerkrieg auszulösen.

Doch unser Sohn hatte sein Geburtstagsgeschenk von «Babuschka», Grossmutter Inna, noch nicht bekommen, und das war heilig. Statt Koffer zu packen und nach Tickets zu suchen, trabten wir brav bei Inna und Sascha an, nahmen dankend die Spielzeuge in Empfang, tranken Kaffee und assen Pfannkuchen dazu. Dazwischen ängstliche Blicke aufs Handy. Über den Putsch kein Wort. Am frühen Nachmittag wurden wir schwer bepackt entlassen.

«Schneewittchen» wird blass

Alles sprach für die Flucht: die Fragen beunruhigter Angehöriger in der Schweiz und Brasilien, der abgestürzte Rubelkurs und die hilflose Untätigkeit der russischen Regierung. Ich erinnerte mich an die Erzählung von Freunden, die sich während des Augustputschs 1991 auf der Datscha befanden und dass das sowjetische Fernsehprogramm plötzlich auf Programm «Schwanensee-Nonstop» umgestellt wurde. Nachrichtensperre total.

Seither, müsste man meinen, hätte sich einiges verändert. Doch so raffiniert die staatliche Propaganda normalerweise die Köpfe ihrer Zuschauer zurechtrückte – ihre Abhängigkeit von den Anweisungen des Kremls war geblieben –, schien ihr angesichts des anmarschierenden Söldnerheers einfach die Luft weggeblieben zu sein.

«Schneewittchen», wie ich die Nachrichtensprecherin des Ersten Kanals nenne, war offensichtlich nicht für die übliche «Märchenstunde» aufgelegt, als sie mit schreckstarrem Gesicht das dürre Regierungskommuniqué verlas. Ebenso Putin, der erst am nächsten Morgen Worte fand und von dem trotz seines Aufrufs zur Einheit alle wussten, dass er längst aus Moskau getürmt war.

Moskau war schutzlos preisgegeben. Die Eliteregimenter an der Front. Das wurde schon im Mai klar, als die Einheiten russischer Nationalisten von ukrainischer Seite her in die Region eingedrungen waren.

Wir atmeten tief durch – das war verdammt knapp! Wir riefen unsere Freunde an, mit denen wir am Sonntag einen Ausflug ans Meer geplant hatten, den wir jedoch abgesagt hatten. Den genossen wir nun doppelt.

Da sassen wir jetzt zu Hause und wussten nur eines: Es war für alles schon zu spät. Einen Notfallkoffer hatten wir nie gepackt. Aber selbst wenn, wäre es gar nicht so leicht gewesen, rauszukommen. Von Petersburg fahren täglich noch drei Busse in Richtung Estland und Finnland, die natürlich alle ausgebucht waren. Flüge in Richtung Türkei, Georgien, Armenien oder Kasachstan führten zwangsweise über Moskau, und dort herrschte gerade Ausnahmezustand. Das Mail des Schweizer Generalkonsulats, in dem gemeldet wurde, man habe gerade die Reisehinweise für Russland angepasst, war ein schwacher Trost.

Nach einigen Stunden Trübsalblasen und ängstlichem Nachrichtenlesen gab schliesslich der Kremlsprecher mit deutlich zerknitterter Stimme den Rückzug Prigoschins bekannt. Wir atmeten tief durch – das war verdammt knapp! Wir riefen unsere Freunde an, mit denen wir am Sonntag einen Ausflug ans Meer geplant hatten, den wir jedoch abgesagt hatten. Den genossen wir nun doppelt.

Stur auf Normalität geschaltet

Während in Moskau und einigen südlichen Regionen der Notstand ausgerufen worden war, hatte Petersburg stur auf Normalität geschaltet. So war auch das gross angelegte Fest «Alye Parusa» mit Tausenden von Schulabgängern auf dem Schlossplatz planmässig durchgeführt worden. Ebenso planmässig waren die zwölf Tonnen Abfall, die nach der Riesenfete weggeräumt wurden, und das Dutzend Schülerinnen und Schüler, das mit einer Lebensmittel- oder Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Alles normal; so wie in Rostow am Don, wo man am Montagmorgen sorgsam die Spuren von Prigoschins Panzerketten im Asphalt teerte und die zerquetschten Tramgeleise zurechtbog, als wäre gerade Fasnacht gewesen. Putsch? Was für ein Putsch? Schwamm drüber – man wird doch nicht gleich übertreiben wollen. Normalität auch an der Moskauer Börse, an der die Kurse sofort auf Vorputsch-Niveau zurücksprangen.

Demonstrative Normalität auch in der Firma. Am Mittagstisch ist der Putsch so wenig ein Thema wie der Krieg. Als meine Büronachbarin Swetlana von ihrem bevorstehenden Urlaub in Weissrussland erzählt, stichle ich ein wenig – ob ihr bewusst sei, dass Prigoschin jetzt dorthin «exportiert» worden sei? Ja, das sei ihr schon unangenehm, diesen Typen im gleichen Land zu haben. Aber schliesslich verbringe sie den Urlaub auf dem Land. Dort werde man schon merken, dass etwas passiert sei, wenn Panzerketten zu hören seien.

Eine lange Tradition

Ein bitterer Nachgeschmack blieb zurück und die Gewissheit, dass dieses Spektakel wohl nur ein Vorzeichen für einen drohenden Bürgerkrieg war. Normalerweise müssten solche Banden von der regulären Armee in die Schranken gewiesen werden, doch diese erwies sich als völlig machtlos. Ausserdem hatten viele Russen unverhohlene Sympathie für die Wagner-Truppen und ihren Führer und Banditen Prigoschin gezeigt.

Leider hat dieser Widerspruch eine lange Tradition in der russischen Geschichte. Schon die Kosaken-Führer Jemelian Pugatschow und Stenka Rasin zogen im 17. und 18. Jahrhundert gegen die Moskauer Obrigkeit ins Feld. Und immer ging es um dasselbe: Die unterdrückte und zurückgebliebene Provinz revoltierte gegen die korrumpierten und arroganten Machthaber im Kreml. Auch das Ende war immer dasselbe: Die Anführer wurden verraten, verhaftet und hingerichtet.

* Der Journalist Eugen von Arb arbeitete früher für die «Glarner Nachrichten» und schreibt heute noch Kolumnen. Er lebt mit seiner Frau und dem Sohn in St. Petersburg.
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