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Weltkrieg: Liebe über alle Grenzen

Zeitzeugin Paulina Müller erzählt, wie sich ihre Mutter in einen desertierten Wehrmachtssoldaten verliebte.

Südostschweiz
01.09.19 - 04:30 Uhr
Ereignisse

von Pesche Lebrument

Das Hündchen mit dem bräunlich-weissen Fell begrüsst mich aufgeregt an der Tür. Ihm folgt Paulina Müller, sie bittet mich in ihre Wohnung mit den antiken Möbeln. Alles hat seinen Platz, in einer offenen Truhe liegen Dokumente und Briefe, gebunden zu Stapeln, darauf von Hand beschriftete Deckblätter «1940», «1941», «1942» …

Paulina Müller versorgt mich in der Küche mit Kaffee und Keksen in Herzform. Tagebücher liegen auf dem Tisch, der Hund namens «Cotschen» legt seinen Kopf auf meine Füsse. Die Frau mit der filigranen Figur sagt, sie sei nach dem Krieg Tänzerin gewesen und Kindergärtnerin. Einen Teil ihrer Kindheit verbrachte Paulina Müller in Andeer.

Sie klappt ein Tagebuch auf, ihr allererstes, es war ein Geschenk zu ihrem 13. Geburtstag. Die Seniorin liest, was sie als Jugendliche schrieb: «Also heute den 6.6.44. am Morgen gab es eine grosse Aufregung. Die Invasion. Es wurden Extrablätter herausgegeben. Im Radio wurden Reden gehalten. Die Deutschen logen natürlich, aber so wie dieses Mal logen sie noch nie. Sie sagten nämlich, dass sie die Retter Europas seien!!!!!! (…) Dabei haben die Deutschen die anderen Länder überfallen!!! Sie lügen also fürchterlich.» Sie habe eine solche Wut gehabt, als sie als Jugendliche diese Zeilen schrieb. Paulina Müller sieht vom Tagebuch auf und sagt, sie habe nun einfach irgendwo begonnen, was ich denn eigentlich wissen wolle. Ich frage, warum sie sich bereits als Mädchen so sehr für die Kriegswirren interessierte.

«Da isch öppis nit guat»

Paulina Müller erzählt von Papa Paul und Mutter Paulina, dem Mediziner und der Literaturstudentin. 1938 fuhr das junge Paar über die noch offene Grenze zur Kur in die Tschechoslowakei. Schon damals habe man gespürt, «da isch öppis nit guat». Von den Judenverfolgungen habe man bereits gehört, «das hät ja nit erscht mit am Krieg agfanga». Ihre Eltern lernten während des Aufenthalte eine Jüdin mit Namen Margrit kennen und schätzen. Sie bat, mit in die Schweiz reisen zu dürfen. «Sie hät sie agfleht. Sie hät gwüsst, sie kunnt inas Lager, wema sie ufgrifft.» Zu Hause hätten die Eltern bei den Behörden alles versucht, doch sie weigerten sich, die nötigen Papiere auszustellen. «Miar Schwizer händ nit grad a guati Falla gmacht, später hät ma an da Grenza Juda sogar in da sicher Tod zrugggschickt», sagt Paulina Müller. Ihre Mutter habe ihr von klein auf viel zu lesen gegeben, sie sagte: «Ohne Geschichte versteht man nichts.» Unter den Schriften waren auch Texte jüdischer Schriftsteller, seither fühle sie sich mit dieser Gemeinschaft verbunden.

Kurz regt sich der Hund, als ich in einen herzförmigen Keks beisse, dann legt er seinen Kopf wieder auf meine Füsse. Im Krieg war die Region rund um Andeer ein wichtiger Durchgang, alles war befestigt, die Armee zog sich in die Berge zurück. Paulina Müllers Grossvater führte das Badehotel «Fravi», das für seine Heilquellen bekannt war, Paulinas Mutter kam hier zur Welt. Das Hotel beherbergte in der Vergangenheit prominente Politiker, gar Könige, auch Karl Marx zählte zu den Gästen. In den Kriegsjahren kamen anstelle der Kurgäste Offiziere im Hotel unter. Sie habe manches Mal den Morgenstreich gehört, den einer mit der Trompete «gügelet hät». Lebhaft sei es zu und her gegangen, das Hotel war für die junge Paulina ein grosser Abenteuerspielplatz. 

Doch in Andeer gab es auch die anderen, Nazi-Verehrer, wenige, aber es gab sie. Sie erinnert sich, dass bei Bekannten ein Bild des «Führers» hing. Die Frau sei Deutsche gewesen, Gau-Leiterin wäre sie geworden, falls «die Deutschen» dann doch einmarschiert wären, ist Zeitzeugin Müller überzeugt. Der Bruder der Deutschen sei später im Krieg gefallen. Und auch in ihrer Familie habe es einen gegeben, einen Onkel, sie ahmt seine Stimme nach: «… das mit da Juda, schad hät ma dia nit alli …», Paulina Müller spricht den Satz nicht zu Ende.

Bei der Post in Andeer habe ein Plakat gehangen: «Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat», «Das händs ufghängt, dass ma nit zviel schimpft und nit as zu grosses Muul hät, wenn ‹är› denn doch kunnt», erklärt Paulina Müller. «Z Gebrüll fum Hitler usam Radio isch schauderhaft gsin.» Einen solchen Apparat habe ihre Tante, die Frau eines Oberst, gehabt. Manches Mal hätten sie sich bei ihr um das Gerät versammelt. Die Kinder hätten sich ausgemalt, was sie mit Hitler anstellen würden, wenn sie ihn zu fassen bekämen. So hätten sie ihn etwa draussen an einen Pfahl angebunden und angespuckt.

General Guisan in Andeer

Das Andeer ihrer Kindheit sei ein richtiges Bauerndorf gewesen. In fast jedem Stall standen Kühe und Rosse. Am Morgen sei der Geisshirt gekommen und habe das Horn geblasen, die Bauern brachten ihre Tiere, der Hirt führte diese auf die Weide. Abends holten sie die Besitzer wieder auf dem Dorfplatz ab, «das isch eis Gmecker gsin». In den Häusern habe es kein fliessendes warmes Wasser gegeben und auch keine Badewannen. Im Winter war es nur in den wenigen Räumen warm, in denen ein Ofen stand, im übrigen Haus habe man seinen eigenen Atem gesehen. Die Mädchen hätten keine Hosen tragen dürfen, nur Röcke und immer diese kratzigen Strümpfe. Überallhin sei man zu Fuss hingelaufen, «Auto, do müamer gar nit reda, um Gottes Willa, Auto». Einmal habe sie als Kind am Dorfeingang auf dem Brunnen sitzend die Fahrzeuge gezählt: «Öppa all halb Stund isch eis koh.»

Paulina Müller erinnert sich, dass General Guisan eines Tages mit dem Jeep durch Andeer fuhr. Er stieg aus und gab allen Kindern die Hand. «I han miar d’Hand a däm Abed nit wella wäscha». Es sei ein grosses Ereignis gewesen, den General zu treffen, sie erinnert sich, dass er sehr freundlich gewesen ist. Auf den beinahe verkehrsfreien Strassen spielten die Kinder Völkerball, sie sassen am Fluss und tobten im Wald. Selbst der Kirchturm war Paulinas Revier. Den Glockenstuhl habe sie angemalt und darin Flöte gespielt. Es sei ein freies, schönes Leben gewesen. Ihr scheine das Leben heute viel komplizierter, mit all dem «digitala Gschmois.» In Andeer habe es damals gerade mal ein öffentliches Telefon gegeben. Brieflich habe man sich verabredet, «dänn und dänn telefonierend miar», verbunden wurde man von einer Telefonistin. Gebräuchlich war auch der Telegraf, mit dem Texte übermittelt wurden, Buchstabe für Buchstabe. Vor allem aber habe man sich geschrieben, sagt Paulina Müller. Die Post sei mehrmals täglich verteilt worden.

An anderer Stelle hingegen fehlte der Segen der Technik. So wurde im öffentlichen Wäschehaus gewaschen, die Kleider kochten in riesigen Kübeln, mit dem kaltem Wasser des Dorfbrunnens wurde die Wäsche gespült. Das habe seine Spuren hinterlassen, «d’Händ gschwulla, Arthrosa fum Krüppla und am kalta Wasser».

Gefeiert und gegessen

Vater war im Hilfsdienst. Erneut liest sie aus ihrem Tagebuch: «Andeer, den 21.11.43. Heute bekam ich eine Karte von Mama. Sie ist bei Papa in Samedan. Papa hat dort einen Sanitätskurs im Militär. Mama schreibt, vielleicht komme sie nach Andeer, (…) Gestern war hier grosses Abschiedsfest der Offiziere und Soldaten. Sie gehen morgen in Urlaub. Ich durfte gestern auch bis halb elf aufbleiben und zusehen. Im Saal wurde getanzt und Wein getrunken. In der Wohnstube hatten die Soldaten eine rassige Bar eingerichtet.»

Es wurde gross gefeiert, doch bescheiden gegessen. Während der Kriegsjahre habe es oft Suppe und Kartoffeln gegeben. Vieles war rationiert, Teigwaren oder Reis. Man ass anstelle von Risotto «Gerstotto», ein Gericht aus Gerste. Dabei erinnert sich Paulina Müller, dass ihre Grosstante einen riesigen Sack mit geschmuggeltem Reis unter dem Bett versteckt hatte. Einmal pro Monat kam eine ältere Italienerin, die «Pomeranzina», ins Dorf. Sie schob einen Kinderwagen auf grossen Rädern, darinlagen Orangen, Mandarinen, und Bananen. Das waren wahre Delikatessen, die allerdings auch ihren Preis hatten. So etwas hätte es in den Läden nicht gegeben. Man ass für gewöhnlich Äpfel, Birnen und Nüsse. Anders als heute sei damals übrigens kaum etwas weggeworfen worden, schon gar kein Essen, das mache sie auch heute nicht.

«Dia junga Lüt wörfend hüt as Joghurt wäg, wo ein Tag übers Verfallsdatum drüber isch.» Selbst aus den schwarzen Vorhängen, die nachts zur Verdunkelung gezogen werden mussten, habe sie sich später einen Rock geschneidert, «frühaner hät ma halt eifach alles brucht».

Deutsche Liebe

Ihre Mutter lernte einen deutschen Wehrmachtsoldaten kennen. Arthur Henschel desertierte und floh über die Grenze bei Basel. Er wurde aufgenommen, landete als Internierter im Hotel «Fravi» in Andeer. Prokurist Henschel musste unter anderem mithelfen, die Säue zu füttern. Ihre Mutter habe sich immer um alle möglichen Aussenseiter gekümmert, so auch um den Norddeutschen Henschel, den gescheiten, ruhigen, etwas schwerblütigen Mann. Sie versorgte ihn mit Büchern, eine Freundschaft bahnte sich an, die Ehe der Eltern kriselte schon länger. Paulina begriff allmählich, dass mit dem deutschen Soldaten «mehr» war.

Nach dem Krieg heiratete ihre Mutter den ehemaligen Wehrmachtsoldaten, sie zogen nach Heiligenhaus bei Düsseldorf. Paulina mochte nicht folgen, alle ihre Freunde lebten in der Schweiz. Sie besuchte sie jedoch mit der Eisenbahn, die Zugfenster zeigten links und rechts zerbombte Kriegsruinen. In Düsseldorf sei alles voller Schutt gewesen, «hoch wia Pyramida». Mit dem Kriegsende entdeckte Paulina Müller die Welt, es zog sie schon in jungen Jahren nach Paris, wo sie bei einer Familie arbeitete. Mama sei mit ihrem deutschen Mann glücklich geworden.

Was sie mit ihren Kriegserfahrungen über den Menschen denke, frage ich. «Öppis isch krumm ganga in da Schöpfig», sagt Paulina Müller. Krieg sei das grösste Übel, Menschen würden gegeneinander aufgestachelt. Nach dem Krieg habe man gedacht, es kämen bessere Zeiten.

Ich verabschiede mich, auch das Hündchen Cotschen begleitet mich hinaus. Ich frage, ob sie wisse, was aus der Jüdin Margrit wurde. Sie sagt, sie habe nie mehr von ihr gehört. Sie habe ihren Verbleib auch den vielen Briefen nicht entnehmen können, die in der grossen Truhe lagern. Der Schwanz des Hundes wedelt zum Abschied. Er bleibt zurück, zusammen mit den Aufzeichnungen jener Jahre, als Adolf Hitler auch die kleine Welt von Paulina Müller bestimmte. 

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