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Mann im Krieg, Kind im Garten

Zeitzeugin Annemarie Davaz beschreibt, wie sie als Kind während des Zweiten Weltkriegs mitarbeiten musste.

Südostschweiz
01.09.19 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Die 89-jährige Annemarie Davaz arbeitet beinahe täglich in den Rebbergen in Fläsch.
Die 89-jährige Annemarie Davaz arbeitet beinahe täglich in den Rebbergen in Fläsch.
PHILIPP BAER

von Pesche Lebrument


Atemberaubender Blick über die Fläscher Rebberge. Annemarie heisst sie, Annemarie Davaz. Ich warte auf sie auf ihrem Balkon. Noch nie bin ich ihr begegnet. Als sie hinaus auf die Terrasse tritt, entschuldigt sie sich, dass sie mich hat warten lassen. Bis eben hat sie noch im Rebberg gearbeitet, sagt die 89-Jährige und fragt, ob ich Kaffee mit oder ohne Koffein möchte. Mit. Sie reicht mir die Tasse zusammen mit zwei Stück Kuchen.

Ein Gespräch inmitten von Reben. Vor meinem Besuch hat sie sich Notizen gemacht von dem, was damals war. «Was möchtend sie wüssa?», fragt sie. «Welli Erinneriga an Zweiti Weltkriag kömmand immer wieder?» Sie beginnt bei der Familie und beim Essen. Ihre Mutter Helena war Hausfrau, der Vater Förster, Bauer und Erbauer von Seilbahnen. Sechs Kinder, zwölf Hühner, sie alle lebten auf einem Hof in Malans. Eines Tages hätten die Behörden befohlen, alle Hühner zu zählen. Daraufhin wurde entschieden, wie viele Eier die Familie jeweils behalten durfte und wie viel dem Staat abzugeben seien.

«Miar händ so viel müassa abgeh, miar händ immer z’wenig Eier kha.» Ihre Mutter hätte manches Mal Omeletten oder «Tatsch» gemacht, dazu aber nur jeweils ein Ei verwendet. Allerdings hätten sie die Hühner auch falsch gefüttert, wie sie selbst später als Erwachsene auf der Bäuerinnenschule lernte. Man dürfe den Hühnern nicht nur Kartoffeln und Weizenschalen geben, sonst legten sie zu wenig Eier. Die Eier mussten zu einer Abgabestelle gebracht werden, eingesammelt habe sie ein Mann, den man weitherum den «Eier-Boner» nannte. «A wackers Büchli hät är gha», die Leute hätten hinter vorgehaltener Hand gesagt: «Da Herr Boner isst d’Eier sälber». Vermutlich sei das aber nur üble Nachrede gewesen. Sonst aber habe sie zu jener Zeit keine anderen dicken Menschen gekannt.

Verordnetes Essen

Mama sei eine liebe Frau gewesen, jedoch eine bessere Klavierspielerin als Köchin oder Bäuerin. Vater Anton, genannt Toni, musste in jenen Jahren manches Mal zum Kriegsdienst. «Immer wenns brenzlig worda isch, händ d’Männer an d’Front müassa», erinnert sich Annemarie Davaz. Doch nicht nur der Vater musste einrücken, auch das Ross, das zum Hof gehörte. Es stellte sich nun allerdings die Frage, wie ohne Vater und Ross der Acker gepflügt werden sollte. Diese Arbeit versuchte Annemarie Davaz fortan zusammen mit den älteren Geschwistern zu bewerkstelligen. Vor den Karren wurden Kühe gespannt. «Miar sind total überforderet gsi.» Sie hielt d ie Kühe vorne, ihre Schwester trieb sie von hinten, der Bruder führte den Pflug. «Plötzli sind d’Küah in grossa Sätz samt am Pfluag eifach  abghaua.»

Vielleicht seien die Klapse auf die Tierhintern zu stark gewesen. Der Acker, den sie bestellten, war behördlich angeordnet worden, er war Teil der «Anbauschlacht», mit der sich die Schweizer Bevölkerung selbst versorgen sollte. Wie bei den Eiern wurde genau bestimmt, wie viel des angebauten Weizens sie im Herbst einbehalten durften und wie viel dem Staat abgegeben werden musste.

«Au dia Berechniga händ vielmol nit gstumma», ist Annemarie Davaz überzeugt, die bei Kriegsausbruch zehn Jahre alt war. Die Behörden hätten meist zu viel einbehalten. Ihre Mutter musste manches Mal Brot aus barer Gerste oder Roggen  backen, «so schwarzi Bröcka», weil es an Weizenmehl fehlte.

Immer diese «Härdöpfel»

Was kam typischerweise auf den Tisch?, möchte ich wissen. «Härdöpfel, Härdöpfel, Härdöpfel.» Sie esse aber auch heute immer noch gerne Kartoffeln. An Gemüse und Salat habe es nicht gefehlt. Hunger habe sie nie gehabt, aber es sei einfach manchmal etwas eintönig gewesen. Selten war Reis oder Fleisch. Es sei ein Ereignis gewesen, wenn sie ein Schwein «gmetzget» hätten, doch auch das ging nicht ohne behördlichen Segen. Der Fleischbeschauer habe den Anteil für die Familie bestimmt. Im Gegenzug strich er allerdings zeitweilig die Lebensmittelmarken für den Bezug von Fleisch im Laden. Ihre Tante betrieb einen Laden.

Nur an bestimmten Tagen durfte Fleisch verkauft werden. Eines Tages kam einer ins Geschäft und wollte unbedingt eine Wurst kaufen, er bestand darauf, bettelte regelrecht.

Ihre Tante habe ihm geantwortet, dass sie ihm heute nichts verkaufen dürfe. Daraufhin habe sich der Mann als Inspektor zu erkennen gegeben. Er überprüfte, ob das Verkaufsverbot eingehalten wurde. «Übrigens», fügt sie an, «au frisches Brot hät ma nit eifach so könna kaufa». Angeboten wurde altes Brot, frisches wäre zu schnell weggegessen worden. Sie erinnere sich an eine Aufschrift in der Bäckerei: «Altes Brot ist nicht hart, kein Brot ist hart».

Auch zum Kühemelken fehlte den Kindern die Erfahrung. Weil sie die Tiere nicht richtig ausgemolken hätten, hätten sie nur wenig Milch gegeben. Die Milch wurde abgerahmt und daraus gesottene Butter gemacht. Mama habe die Vorräte im Estrich versteckt, offenbar aber nicht gut genug, denn ihr Bruder, ein Schmächtiger, habe plötzlich viel besser ausgesehen, «är hät aso Bäggli überkoh». Als die Mutter den Vorrat nach Wochen holen wollte, war alles weg. Es stellte sich heraus, dass der Bruder  jeweils mit Brotstücken zum Buttertopf ging und sich grosszügig bediente. «Nur am Sunntig hämmer töffa a kli Butter ufs Brot stricha, unter da Wucha isch das gar nit infrog koh.» Ich esse ein Stück Kuchen, den sie mir zu Beginn des Gesprächs 
zusammen mit dem koffeinhaltigen Kaffee reichte.  

Bomber und Bomben

Neben der Arbeit stand natürlich auch der Besuch der Schule an. Sie habe Rechnen, Schreiben und Lesen gelernt, aber im Gegensatz zu den Buben nie Geometrie, denn die Mädchen mussten währenddessen in der Nähschule Socken für die eigenen Familien lismen. Auch habe man unbekannten Soldaten etwa an Weihnachten ein Päckli geschickt, der Frauenverein steuerte Geschenke bei, die Schülerinnen und Schüler schrieben eine Karte dazu: «Lieber Soldat …». «Ihr» Soldat habe zurückgeschrieben, sie sei stolz gewesen und habe den Brief noch jahrelang aufgehoben. Während der Schulzeit wurden auch Nüsse gesammelt und Kleider geflickt.

Sie hätten viel flicken müssen, denn damals gab es noch keine verstärkten Garne. «I kann bis hüt kai Geometrie», sagt Annemarie Davaz. Auch habe man in der Schule nicht viel über die Welt gelernt, im Vordergrund standen eher die praktischen Dinge.

Sie könne sich noch gut erinnern, damals in der Nähschule sei in der Nähe eine verirrte Bombe heruntergekommen. «Miar sind furchtbar verschrocka», die Kinder hätten geweint. Einmal sei zwischen Sargans und Fläsch tagsüber ein Bomber abgestürzt, die Schweizer Armee habe ihn abgeschossen, sie habe die brennenden Teile gesehen, die vom Himmel fielen, zusammen mit drei, vier Fallschirmen. Später hiess es, die  alliierte Flugzeugbesatzung sei glücklich gewesen, als sie erfuhr, dass sie auf Schweizer Boden gelandet sei, die Männer hätten den Boden geküsst.

Manches Mal habe sie die Flugzeuge am Himmel gehört, dieses Brummen, diesen Ton würde sie heute noch wiedererkennen. Nachts musste immer alles verdunkelt werden, «damit da Find nit weiss, wo a Dorf oder a Stadt isch, damit sie kai Bomba aha loh könd». Einmal spät kam ihr Vater ins Zimmer und sagte, der Nachtwächter sei gerade da gewesen, bei ihr würde noch Licht durch die Store scheinen. Sie erinnere sich gut, weil sie gerade «Winnetou» gelesen habe. Sie konnte nur nachts  lesen, denn tagsüber musste sie arbeiten. Das elektrische Licht war ohnehin nicht besonders gut, es durfte nicht zu teuer sein, nur in der Stube gab es ein besseres Licht.  

«Dr Hitler hängt am Seil»

Unter den Kindern habe ein Lied kursiert: «Heil, Heil, Heil, dr Hitler hängt am Seil, es ruft aus allen Ecken, der Hitler muss verrecken». Da sei der Vater gesprungen gekommen und habe den Kindern das Singen untersagt, sonst würden sie auf der Schwarzen Liste landen. Annemarie Davaz schaut mir in die Augen und fragt, ob ich wisse, was die Schwarze Liste sei. Im Dorf habe es einige Hitler- Anhänger gegeben, ein besonders Getreuer führte eine Liste. «Wenn da Hitler inakunnt, wärend dia, wo uf da Lischta gstanda sind, erschossa worda.» Danach hätten die Kinder das Lied nur noch hinter vorgehaltener Hand gesungen. Sie wisse, wer der Getreue war, ihres Wissens nach war er mit einer Deutschen verheiratet. Alle hätten von seiner Bewunderung für Nazideutschland gewusst, er habe es nicht verheimlicht, heute sei 
 er tot.

«Die Deutschen» kommen

Manches Mal habe es geheissen, die Deutschen kommen jetzt, «alles hät bibberet», sagt Annemarie Davaz. Die Gemeinde habe einen Evakuierungsplan aufgestellt. Beim Einmarsch wäre ihre Familie für den Wegzug nach Flims eingeteilt gewesen. «Dahai simmer für d’Flucht grüschtet gsi», das Allernötigste lag auf einem Karren, die  Wertsachen waren griffbereit in einem Kellerversteck. Ihre Mutter habe gesagt: «Wenns lütet in dr Nacht, denn müand iar go».  

Glücklicherweise seien die Deutschen nicht gekommen. In Malans erzählte man sich, Mussolini habe ein Interesse daran gehabt, die Schweiz als Puffer zwischen Italien und Deutschland zu wissen, deshalb habe er den Einmarsch verhindert. Annemarie Davaz erinnert sich an Strassensperren, die aufgestellt wurden, wenn man wieder glaubte, jetzt kämen «sie» von St. Margrethen her. Den Ernst der Lage habe sie als Kind nicht begriffen, doch sie erinnert sich an den Ausspruch ihrer Mutter: «Dia arma Juda, dia arma Juda». Es sickerten wohl immer wieder irgendwie schreckliche Nachrichten durch. Einen Radioapparat hätten sie keinen gehabt, eine Ausnahme sei ihr Grossvater, der einstige Regierungsrat Georg Fromm, gewesen.

Seilbahn für den Krieg

Weil der Vater Förster war, musste er nicht die ganzen Kriegsjahre im Militär verbringen. Die Malanser Forstgruppe, der er damals vorstand, wurde zum Bau der Malanser Älplibahn abkommandiert. Annemarie Davaz’ Vater hatte Erfahrung im Bahnbau, es war seine Leidenschaft, schon früher baute er Bahnen. Beim Älplibahn-Projekt war er federführend. 1939 geplant, wurde die Bahn bereits ein Jahr später in Betrieb genommen, sie versorgte helvetische Soldaten an der österreichischen Grenze, heute bringt sie Touristen auf den Berg. Ich verzehre das letzte Stück Kuchen und frage sie, ob sie ihren Enkeln und Urenkeln vom Krieg erzählt habe. Annemarie Davaz schüttelt den Kopf.
 

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