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Der letzte Wille ist unantastbar

Der Kanton Graubünden spricht den Erben einer Frau 60 000 Franken zu. Dies, weil ein Willensvollstrecker Geld in die eigene Tasche gesteckt hatte. Eine traurige Geschichte mit versöhnlichem Ende.

Olivier
Berger
17.11.18 - 12:37 Uhr
Ereignisse
YANIK BÜRKLI

Am Ende wurden sich die Parteien doch noch einig. Im Juni dieses Jahres legten die Erben einer im Jahr 2013 verstorbenen Frau und der Kanton Graubünden ihren Rechtsstreit mit einem Vergleich bei. Der Kanton erklärte sich bereit, den Erben 60 000 Franken zu überweisen, bezahlbar innert 14 Tagen. Laut dem Dokument, das der «Südostschweiz am Wochenende» vorliegt, stammte der Betrag letztlich nicht aus der Kantonskasse, sondern er wurde von zwei Versicherungsgesellschaften übernommen. Kurz nach der Unterzeichnung des Vergleichs stellte das Verwaltungsgericht Graubünden ein Verfahren gegen den Kanton ein.

«Rasch nicht mehr erreichbar»

Am Anfang der Rechtsstreitigkeiten stand der Tod der Erblasserin im Juni 2013. Daraufhin wurde ein Churer Jurist als Willensvollstrecker eingesetzt. Dieser war aber laut der späteren Klageschrift der Erben an das Verwaltungsgericht Graubünden «sehr rasch für die Klägerschaft mit ihren verschiedensten Anliegen nicht mehr zu erreichen». Zudem, so heisst es weiter, seien Rechnungen von Amtsstellen nicht bezahlt und Steuererklärungen nicht eingereicht worden.

«Der Richter hat gegen seine Sorgfalts- und Aufsichtspflichten verstossen», so ist es aus der Klageschrift zu entnehmen.

Später stellte sich heraus, dass es nicht bei solchen Versäumnissen geblieben war: Der Jurist hatte offensichtlich Geld aus dem Nachlass in die eigene Tasche abgezweigt. In ihrer Klage beim Verwaltungsgericht machten die Erben knapp 80 000 Franken Schaden geltend. Bevor sie ans Verwaltungsgericht gelangten, zeigten sie den fehlbaren Juristen an. Anklage erhob die Staatsanwaltschaft Graubünden allerdings nicht. Dies, weil der Jurist im Sommer 2017 verstarb.

Schon vorher verurteilt

Um das veruntreute Geld doch noch zurückzuerhalten, klagten die Erben im Herbst 2017 deshalb gegen den Kanton. Der Vorwurf: Das frühere Bezirksgericht und heutige Regionalgericht Plessur habe bei der Einsetzung des Willensvollstreckers fahrlässig gehandelt. Der Kanton müsse im Rahmen der Staatshaftung für den entstandenen Schaden aufkommen.

In der Klageschrift erklären die Erben, wieso man den Churer Juristen ihrer Meinung nach nie zum Willensvollstrecker hätte ernennen dürfen. Tatsächlich war der Mann schon im Jahr 2010 wegen mehrfacher Veruntreuung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden. Schon vor dieser Verurteilung war er im Jahr 2009 von der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte mit einem Berufsverbot belegt worden; zudem verlor er auch das Notariatspatent. Während einigen Jahren stand er sogar unter Beiratschaft eines Berufskollegen – dies aber nicht mehr zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Willensvollstrecker im Sommer 2013.

Dass das gleiche Gericht, das ihn wegen Veruntreuung verurteilt hatte, den Juristen als Willensvollstrecker bestätigte, stiess den Erben sauer auf. Im «Sinne einer Präventionsmassnahme» hätte man ihrer Meinung nach «den offensichtlich unfähigen und vom Bezirksgericht Plessur gröbster Pflichtwidrigkeiten überführten» Juristen niemals bestätigen dürfen. Weil er dies trotzdem getan habe, habe der zuständige Richter «gegen seine Sorgfalts- und Aufsichtspflichten verstossen und der Klägerschaft den eingeklagten Schaden zugefügt», heisst es in der Klageschrift.

«Der Jurist wurde nicht vom Gericht eingesetzt, sondern von der Verstorbenen», sagt der Richter Urs Raschein.

Kein Spielraum für Gerichte

Urs Raschein, damals zuständiger Richter am Bezirksgericht Plessur, widerspricht. «Der fragliche Jurist wurde nicht vom Gericht eingesetzt, sondern von der Verstorbenen selber.» In solchen Fällen habe das Gericht keinen Ermessensspielraum. «Wir können diese Entscheidung nur mitteilen, sie aber nicht von uns aus ändern.»

Auch nachdem erste Hinweise der Erben auf Unregelmässigkeiten eingegangen seien, habe er nicht von sich aus tätig werden können, so Raschein. Er habe die Erben mehrmals darauf hingewiesen, dass dafür eine schriftliche Eingabe notwendig sei. «Sobald diese vorlag, habe ich umgehend reagiert und die Einsetzung des Juristen als Willensvollstrecker widerrufen.» Er sei sogar noch einen Schritt weiter gegangen und habe beim Kantonsgericht nachgefragt, ob man den Mann als künftigen Willensvollstrecker gewissermassen sperren könne. «Das Kantonsgericht hat mir mitgeteilt, dass das rechtlich nicht möglich sei.»

Tatsächlich zeigt ein Blick in die Akten, dass das Bezirksgericht auf die schriftliche Willensvollstreckerbeschwerde der Erben zügig reagierte. Die Beschwerde datiert vom 13. September 2014. Bereits vier Tage später verbot Richter Raschein dem Juristen jede weitere Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Nachlass. Einen Monat später hielt das Gericht fest, dass nicht erklärbare Barbezüge, unbezahlte Rechnungen und das Schweigen des Juristen «ohne Zweifel auf schwerwiegende Pflichtverletzungen des Willensvollstreckers schliessen» liessen.

Schon im Vorfeld ablehnen können hätte das Gericht den fraglichen Juristen aber nicht – trotz der aktenkundigen Verfehlungen in der Vergangenheit. Das bestätigt Hans-Ulrich Bürer, Präsident des Bündnerischen Anwaltsverbands. «Wenn in einer letztwilligen Verfügung ein Willensvollstrecker angegeben ist, ist es weder die Pflicht noch das Recht des Gerichts, dessen Eignung zu prüfen.» Zum Willensvollstrecker könne praktisch jedermann ernannt werden, so Bürer. «Ein Anwalts- oder Notariatspatent ist dafür nicht notwendig.»

Klage ist kein Einzelfall

Dass der Kanton – wie im vorliegenden Fall – wegen möglicher oder tatsächlicher Fehler von Behörden oder Amtspersonen eingeklagt wird, kommt laut Regierungsrätin Barbara Janom Steiner gelegentlich vor – wenn auch nicht sehr häufig. «In den zehn Jahren meiner Tätigkeit als Regierungsrätin gab es bloss einige wenige Fälle.» Der Kanton gehe bei Klagen immer gleich vor, so Janom Steiner. «Wir melden diese bei der Versicherung an und beauftragen einen Anwalt mit der Wahrung unserer Interessen.» Dies sei auch bei der Klage gegen das heutige Regionalgericht Plessur der Fall gewesen.

Der Kanton mische sich danach nicht mehr in die weiteren Verhandlungen ein, so Janom Steiner weiter. Diese würden vom Anwalt und den Versicherungen geführt. Denkbar seien jeweils zwei mögliche Ausgänge. «Es kann zum Urteil eines Gerichts kommen oder wie im vorliegenden Fall zu einem Vergleich.»

Im Falle der geprellten Erben haben sich die Versicherungen offenbar kulant gezeigt. Rein rechtlich wären die Forderungen vermutlich verjährt gewesen. Laut dem kantonalen Gesetz über die Staatshaftung hätten diese innert eines Jahres nach der Feststellung des Schadens angemeldet werden müssen.«Es ist weder das Recht noch die Pflicht des Gerichts, die Eignung zu prüfen.»

Olivier Berger wuchs in Fribourg, dem Zürcher Oberland und Liechtenstein auf. Seit rund 30 Jahren arbeitet er für die Medien in der Region, aktuell als stellvertretender Chefredaktor Online/Zeitung. Daneben moderiert er mehrmals jährlich die TV-Sendung «Südostschweiz Standpunkte». Mehr Infos

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