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Zur falschen Zeit am falschen Ort

Mit dem Tod eines Sechsjährigen wegen Steinschlags beim Morteratschgletscher taucht die Frage der Sicherheit auf. War die betroffene belgische Familie über die Gefahr im Hochgebirge ausreichend informiert?

20.07.18 - 04:30 Uhr
Ereignisse

Die Tragödie ereignet sich am Dienstagnachmittag kurz vor 13.30 Uhr. Eine belgische Familie verlässt den Weg zum Gletscher Morteratsch, um etwas abseits zu picknicken. Am Fusse des Gletschers im Bereich der Seitenmoräne macht die Familie Rast. Dann löst sich von einer Geröllhalde ein Stein und trifft den sechsjährigen Jungen am Kopf. Die Familienangehörigen und Drittpersonen handeln sofort und alarmieren die Rettungskräfte. Die Rega-Crew versucht den Jungen noch zu reanimieren, doch es ist zu spät. Der Sechsjährige verstirbt noch am Unfallort (Ausgabe von gestern) .

Dominik Hunziker ist bei der Bergrettung der SAC-Sektion Bernina und war am Dienstag am Unfallort in Morteratsch. «Diese Familie hatte extrem viel Pech», sagt er. Sie sei mit etwa 20 Meter Distanz relativ weit von der Moräne entfernt gestanden, doch der Stein sei abgeprallt und weit gespickt. «So eine Situation kommt sehr selten vor», meint der Experte. Einen Erwachsenen hätte der Stein womöglich lediglich am Bein getroffen. Die belgische Familie habe sich in der Nähe von Steinmännchen niedergelassen und sich dort sicher gefühlt.

«Absperren nützt nichts»

Das Unglück in Morteratsch wirft dennoch Fragen nach der Sicherheit auf. Gab es denn keine Warntafeln? War die belgische Familie nicht darüber informiert, dass im Gletschergebiet immer mit herabstürzenden Gesteinsmaterial zu rechnen ist? «Es hat Warnschilder und Markierungen», sagt Martin Aebli, Gemeindepräsident von Pontresina. Die Gäste werden vor Steinschlaggefahr gewarnt. Als Sofortmassnahme nach dem Unglück hat die Gemeinde nun den hinteren Wegabschnitt provisorisch gesperrt. Weitere Warntafeln wurden aufgestellt. Die Sicherheitshinweise werden dennoch nicht von allen eingehalten.

«Absperren nützt nichts, das sieht man ja auch im Winter bei den Pisten.»

«Absperren nützt nichts, das sieht man ja auch im Winter bei den Pisten», sagt Aebli. Zudem würde eine Absperrung eine Sicherheit suggerieren, die im Hochgebirge nie gewährleistet werden kann. Im Sommer ist das Gesteinsmaterial immer in Bewegung. Wer schon einmal beim Morteratschgletscher war, kennt das Geräusch von knackendem Eis und weiss, dass immer irgendwo Steine oder Steinchen von den Hängen herabrollen. «Wir können keine Wände aufstellen, es gibt auch eine Eigenverantwortung», meint Aebli.

Ein Restrisiko bleibt

Diese Meinung teilt auch Jan Steiner, Direktor von Pontresina Tourismus. «Wir sind im Hochgebirge auf 1800 Meter über Meer, ein Restrisiko bleibt immer», sagt er. Der Gletscherweg ist ein beliebtes Wandererlebnis bei Familien. Der Morteratschgletscher ist der drittlängste Gletscher der Ostalpen und bequem auf einem knapp zweistündigen Spaziergang ab dem Bahnhof Morteratsch erreichbar. Auf dem Weg dorthin informieren 16 Haltepunkte über das Zurückweichen des Morteratschgletschers und über das Leben in seinem Vorfeld.

Viele Wanderer und Spaziergänger verlassen den Weg allerdings am Ende, um noch näher an das ewige Eis zu gelangen. Auf die Frage, ob die Gäste ausreichend über die Gefahren informiert sind, meint Steiner: «Wir können keine breite Sensibilisierungskampagne starten, denn damit würden wir vermitteln, dass Ferien bei uns gefährlich sind.»

Weg mit den Steinmännchen

Gemäss Dominik Hunziker, der auch Bergführer ist, konnte die belgische Familie die Gefahrensituation nicht einschätzen. Sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. «Der Tourismus bringt Leute da hin, wo nicht ihr normales Umfeld ist. Man muss die Touristen darauf hinweisen, welche Gefahren bei uns bestehen», sagt Hunziker. Er schlägt deswegen vor, die Menschen auf spezielle Gefahrenzonen hinzuweisen. In vorliegendem Fall wäre es ein kleiner Bereich von 40 auf 60 Meter. Seiner Erfahrung nach gibt es übrigens nicht mehr Steinschlag als in früheren Sommern. «Es ist Juli, die Sonne scheint stark und schmelzt das Eis, was wiederum zu Gesteinslockerungen führt.» Würde man den Steinschlag ganz bekämpfen wollen, müsste man das ganze Engadin planieren.

Am Montag findet ein Treffen zwischen der Gemeinde Pontresina und den Naturgefahrenexperten vom Amt für Wald und Naturgefahren statt. Gemäss Gemeindeschreiber Urs Dubs wird dabei die Situation analysiert. «Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass wir den Weg wieder öffnen», sagt er. Als weitere Massnahme könnten die vielen Steinmännchen flachgelegt werden. «Damit die Leute nicht denken, dass man weitergehen kann, weil es andere offensichtlich auch schon getan haben», erläutert der Gemeindeschreiber.

 

 

Fadrina Hofmann ist als Redaktorin für die Region Südbünden verantwortlich. Sie berichtet über alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Themen, die in diesem dreisprachigen Gebiet relevant sind. Sie hat Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalismus und Rätoromanisch an der Universität Fribourg studiert und lebt in Scuol im Unterengadin. Mehr Infos

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