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«Es nützt nichts, wenn wir jeden Tag ins Puff gehen»

Trotz vieler Sexarbeiterinnen im Kanton St.Gallen werden verhältnismässig wenig Verbrechen geklärt, die mit diesem Gewerbe zusammenhängen. Schaut die Polizei weg? Justizdirektor Fredy Fässler nimmt Stellung.

Südostschweiz
30.05.18 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Justizdirektor Fredy Fässler.
Justizdirektor Fredy Fässler.
ARCHIV REGINA KÜHNE

Von Roman Hertler

Über neun Prozent aller Sexarbeiterinnen in der Schweiz schaffen im Kanton St. Gallen an. Gemessen an der Grösse des Rotlichtmilieus fällt die äusserst geringe Fallzahl von Verbrechen auf, die mit dieser Branche zusammenhängen. «Nur» 2,6 Prozent der Fälle von Menschenhandel und 1,9 Prozent der Fälle illegaler Prostitution wurden gemäss Statistik in den vergangenen Jahren im Kanton St. Gallen verübt. Die Zahlen stammen aus einer Studie des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) von 2015, welche der «Sonntags-Blick» publiziert hat. Der St.Galler Justiz- und Sicherheitsdirektor Fredy Fässler (SP) erklärt die Zahlendiskrepanz.

Fredy Fässler, wie erklären Sie sich, dass in St. Gallen so viele Prostituierte arbeiten, gleichzeitig aber so wenig Verbrechen im Zusammenhang mit dem Rotlichtmilieu aufgedeckt werden?

Fredy Fässler: Eine mögliche Erklärung ist, dass wir nur Prostituierten und Tänzerinnen aus EU- und Efta-Ländern eine Arbeitsbewilligung erteilen. Personen aus Drittländern, beispielsweise aus Brasilien oder Thailand, erhalten keine Bewilligung. Es ist gut denkbar, dass das Risiko für Menschenhandel und illegale Prostitution in diesen Ländern tendenziell höher ist.

Bei der Kantonspolizei St. Gallen kümmert sich nur eine Person im Nebenamt um diese Thematik. Reicht das?

Das stimmt so nicht ganz. Es ist richtig, dass eine Person im Nebenamt sich mit speziellen juristischen Fragen befasst. Die Regionalpolizeien führen in den Erotikbetrieben regelmässig Kontrollen durch.

Das sind repressive Massnahmen. Wäre nicht zusätzlich der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses im Milieu sinnvoll, ähnlich der Gassenarbeit im Suchtbereich?

Die Polizei verfügt natürlich über Kontakte ins Milieu. Immer wieder erhält sie auch Hinweise. Oft kommen diese von Konkurrenzbetrieben. Anzeigen von Betroffenen gehen hingegen kaum ein.

Weil das Vertrauen fehlt.

Angst ist das grosse Problem. Ich kenne das selbst aus meiner Anwaltstätigkeit. Einmal haben Grenzbeamte ein Auto angehalten. Darin sassen einige Männer und eine weinende Frau. Wie sich herausstellte, hatte die Frau wenige Tage zuvor ein Kind geboren und wurde dann in die Schweiz gebracht. Die Beamten haben gemerkt, dass es der Frau nicht gut ging. Aber sie hat partout nicht geredet. Nicht mit der Psychologin, nicht mit mir als ihrem Anwalt. Wir konnten nichts machen.

Unternimmt der Kanton St. Gallen genug gegen den Menschenhandel?

Es handelt sich um ein klassisches Kontrolldelikt. Je mehr Kontrollen, desto mehr Anzeigen. Aber es nützt nichts, wenn wir jeden Tag ins Puff gehen und die Leute kontrollieren, solange niemand redet. Zudem hat die Polizei beschränkte Ressourcen, die sie auf alle Bereiche aufteilen muss. Mehr machen könnte man immer. Mit «Maria Magdalena» verfügt der Kanton über eine Anlaufstelle für Sexarbeiterinnen.

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